Einmal Beobachterrolle, bitte! oder Wie ich unfreiwillig zum Außenseiter wurde

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Lena, 18 Jahre

Wenn ich aufwache, dann immer in genau der Position in der ich eingeschlafen bin, meistens auf dem Rücken, aber nie auf dem Bauch, denn mein Kopf lässt sich dafür nicht mehr weit genug zur Seite drehen. Wenn mein Körper sitzt, dann schwebt mein Kopf über dem Hals, anfangs war es beängstigend, mittlerweile Gewöhnungssache. Befremden, Angst, Unwohlsein und ständige Abhängigkeit bestimmen mein Leben. Nach nunmehr 15 Monaten habe ich gelernt mit den letzten kontrollierbaren Nerven meiner Schultern meine rechte Hand vor und zurück zu bewegen, sodass ich zumindest eigenständig in der Lage bin meinen vollautomatischen Rollstuhl in eine beliebige Position zu bringen oder mich an einen beliebigen (natürlich ebenerdigen) Ort zu fahren. Nichts ist mehr wie es einmal war, einerseits muss ich mir zwar keine Gedanken mehr über mögliche ästhetische Problemstellen an meinen Hüften oder Oberschenkeln machen, meine Oberarme sind auch nicht mehr so kräftig und meine Schultern passen mittlerweile wieder in handelsübliche Blusen und T-Shirts einer bekannten Modekette. Aber andererseits kann ich nicht nur nicht mehr laufen, schwimmen, Rad fahren, skaten und alles andere, das sportlich gesehen Spaß macht, sondern ich kann auch nicht mehr eigenständig essen, trinken, gewisse Notdurften verrichten, mich kratzen oder husten. Mein Alltag ist fremdbestimmt, ohne meine Betreuerin Larissa, die sich Tag und Nacht um mich kümmert, mit mir lebt und auch gerade für mich schreibt, während ich ihr diktiere, dann auch das kann ich ja nicht mehr, wäre ich nicht lebensfähig, ich würde schlicht und einfach verdursten, obwohl ich ein geistig intakter Mensch bin, der ab dem dritten Halswirbel abwärts gelähmt vor sich hin existiert.

Noch vor 16 Monaten sah mein Leben so aus: Ich habe gerade mein Abitur mit einer Note von 1,2 bestanden und habe geplant Anfang 2014 nach Australien zu gehen, um als Au-Pair meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Ich bin Leistungsschwimmerin bei der DLRG und habe im Oktober auf den Deutschen Meisterschaften mit meiner Mannschaft den 4 Platz belegt. Ich habe 4 bis 6 Mal die Woche im Wasser und 1 bis 2 mal an Land trainiert. Mein Sport war mir sehr wichtig und die Freunde, die ich dadurch gefunden habe sind neben meiner Familie die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Dann kam der Unfall, meine Dummheit, mein absolut eigener unverzichtbarer Fehler. Ich war wie jeden Montag Abend beim Training, der Hallenboden in unserer Schwimmhalle ist höhenverstellbar von 90 cm bis 1,8 m. Normalerweise verstellt der Bademeister bereits anderthalb Stunden vor unserem Trainingsbeginn den Hallenboden auf die tiefste Position, normalerweise.... Doch gerade an diesem Montag war der Bademeister krank, eine Vertretung aus der Nachbarstadt hatte seinen Dienst übernommen, wie ich nachher erfuhr, und hatte nicht den erforderlichen Schlüssel zum Verstellen des Bodens, so stand der Boden noch auf der Position von 90 cm. Nicht viel, wenn man 1,65 m groß ist und von einem 1 m hohen Startblock mit einem Kopfsprung ins Wasser springt, wie immer, nur diesmal verhängnisvoll. Ich bin nicht ertrunken, nicht gestorben, ob das zum Glück oder leider so ist kann und will ich nicht schreiben, aber jetzt existiere ich, in einem Körper, der für mich wie ein Fremdkörper ist, mit einem Geist, der mehr kann und will als möglich ist und einem Leben über das ich mir immer Gedanken mache. Der einzige Sport, den ich jetzt noch betreiben kann ist Krankengymnastik, bei der ich momentan lerne ohne Hilfe zu sitzen und eigenständig einen Becher zum Mund zu führen. Ich kann nicht mal eigenständig husten und muss nachts beatmet werden. Ich mache mir oft Gedanken ob mein Leben noch lebenswert ist. Früher wurde ich für Bestzeiten im Schwimmen oder gute Noten in der Schule gelobt und heute bekomme ich große Anerkennung von meinen Freunden, wenn ich es schaffe mir die vorher in mundgerechte Stücke geschnittene Pommes in den Mund zu schieben. Was bitte macht denn so ein Leben noch aus, was soll oder will ich erreichen und worüber kann ich mich noch definieren. Früher waren Körpermaße, Frisuren oder Modeartikel eine Möglichkeit sich auszudrücken, ein gewisses Schönheitsideal hat es mir leicht gemacht ein Ziel zu setzten, um abzunehmen, den Körper zu definieren oder neue Kleidung zu kaufen. Aber jetzt brauche ich nicht mehr abnehmen, meine Kleidung kann ich weder selber anprobieren noch so aussuchen, wie ich gerne möchte, denn Larissa muss mich da ja auch entsprechen rein und raus bekommen. Unpraktische Sachen kommen bei mir nicht mehr in den Kleiderschrank, egal ob hübsch oder nicht. Früher habe ich mir oft Gedanken über meine Ausstrahlung gemacht, ich war selbstbewusst würde ich sagen, aber weder besonders hübsch noch hässlich. Jetzt sehe ich auch die Blick der Menschen, wenn ich durch die Stadt rolle. Ich bekomme die Fragen der Kinder mit, die sie Ihren Eltern stellen, ich spüre die Bedrücktheit, das Mitleid und die Unsicherheit der Menschen, wenn sie mich sehen, oder besser, so tun als wenn sie mich nicht sehen.

Doch eines das wird mir durch meine Beobachterrolle, durch das unabsichtliches Außenseitersein und durch meine Selbstreflexion bewusst: Es ist einfach einem Schönheitsideal nachzueifern, weil man sich selber nicht in frage stellt. Es ist hilfreich, wenn man selber noch keine richtigen Ziele im Leben gefunden hat. Es ist einfach, auf diese Weise die eigene Unsicherheit zu überspielen und es ist feige. Es ist feige, seinem eigenen Körper und Selbstwert gegenüber, sich so zu verhalten. Man versteckt seine eigene Meinung und seine Gefühle hinter angeblichen Wunschzielen, die nur durch die Gesellschaft projiziert werden. Vielleicht ist es mir deswegen so schwergefallen mein Schicksal zu akzeptieren, ich kann nicht mehr so sein wie alle anderen, ich bin kein sportliches “Topmodel” mit beruflicher “Karriere”, aber will und wollte ich das wirklich sein?

Autorin / Autor: von Lena, 18 Jahre