Der gespiegelte Schnee

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Lydia, 14 Jahre

Das schwache Licht aus dem Fenster scheint auf meine helle Haut. Ich sehe mein Spiegelbild, ich lächle.
„Wie geht’s?“, höre ich mich fragen. Diese Stimme, so selbstbewusst und mit einem Gefühl von Stärke, sie ist mir so fremd.
Es war eine gute Frage und doch so schwer zu beantworten. „Weiß nicht“, jetzt klingt meine Stimme nach einem schüchternen kleinen Mädchen, genau nach mir eben. Ich zucke mit den Schultern. Ich hätte natürlich einfach sagen können, dass es mir gut geht, aber es wäre gelogen.
„Du siehst glücklich aus“ Wie kann ich so entschlossen klingen? Die meisten geben sich mit einem Lachen zufrieden, denken zu wissen, wie es mir geht, aber was ist, wenn hinter dem Lachen bereits Tränen fließen? Jeden Tag dieses Gesicht aufsetzen zu müssen, damit keiner Fragen stellt, sich jeden Tag verstecken zu müssen, hinter sich selbst!
Früher war das anders. Ich lachte gerne und ich liebte es im Sommer durch den Regen zu tanzen. Hätte mir keine Gedanken darüber gemacht, ob es vielleicht dumm aussieht, wer darüber lästern würde, wie viele mich auslachen würden. Heute unvorstellbar. Die ganze Schminke würde verwischen, ich würde kleine Tropfen auf meiner Wange spüren und es würde aussehen als hätte ich geweint. Das wäre viel zu peinlich!
Aber dieses Getuschel hinter meinem Rücken, konnte es mir nicht völlig egal sein?! Aber es war mir eben doch nicht ganz egal, was sie dachten. Und mit „sie“ meine ich Jennie, Nicole und Amy. Sie können alles bestimmen, so kommt es mir vor und selbst die Typen aus der 10. sehen sie manchmal an, als wären es ihre Göttinnen. Aber das schlimmste ist, dass ich das Gefühl habe, dass sie die Macht über mich besitzen.
Ich betrachte eine Zeit lang meine Augen. Immer noch das gleiche Funkeln in den Augen wie damals. Sonst ist nicht viel geblieben wie es war. Meine Lippen, weinrot und meine Haare blond gefärbt.
Auch meine Wimpern wirken viel länger durch die aufgetragene Wimperntusche.
„Findest du dich hübsch?“ Wieso frage ich so etwas?
„geht…“ Ich kann ja nicht einmal zu mir selbst ehrlich sein. Natürlich bin ich hübsch, aber wenn ich abends im Bett liege und die ganzen Kosmetiksachen abgemacht habe, fühle ich mich viel wohler und irgendwie auch hübscher.
„Bist du zu feige um zu zeigen, wer du wirklich bist?“
Sei ehrlich! „Ja“

Ich sitze auf einer Mauer, ganz allein, von der ich den ganzen Schulhof beobachten kann. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Es kommt mir so vor, als könne ich für einen kurzen Moment mein Leben einfach ausschalten. Als würde die Musik mich vergessen lassen, wer ich bin, wie ich aussehe. Alle schlechten Erinnerungen, Erlebnisse und Träume verschwinden so plötzlich. Ich sehe nur dem Schnee zu. Jede Flocke so langsam, dass man das Gefühl hat, sie will für immer fliegen, will nicht auf dem Boden landen, wo sie von Schülern überrannt wird und die Farbe eines verfaulten Apfels annimmt. Ich öffne meine Hand und halte sie in den Schnee. Die Schneeflocken lösen sich in Wasser auf, sobald sie meine Hand berühren. Ich habe Angst. Angst davor dass der letzte Ton des Liedes in den sanften Gitarrentönen verklingt. Angst, dass die Lästereien sich wieder in meinem Kopf verkriechen und mir keine Ruhe lassen. 
Plötzlich hüpfe ich von der Mauer herunter. Was mache ich? Nein, hör auf damit! Ich merke, wie meine Beine anfangen zu tanzen und sich meine Arme in der Luft melodisch bewegen. Und auf einmal ist es mir ganz egal, was sie denken würden. Ich lache und habe das Gefühl glücklich zu sein. Ich sehe Amy an einem Baumstamm lehnen. Sie sieht mich an und flüstert Nicole etwas ins Ohr. Nicole lacht. Aber ich tanze weiter! Es interessiert mich nicht was sie sagen!
Der letzte Ton. Stille. Ich setzte mich mit einem Lächeln wieder auf die Mauer.

Ich stehe vor dem Spiegel. Ich schaue mich an. Dann schaue ich an mir vorbei. Durch das gespiegelte Fenster sehe ich dem Schnee zu, wie er durch den Wind aufgewirbelt durch die Luft fliegt, dass es aussieht wie ein schneller Tanz. Die Bewegungen ganz durcheinander und doch passt es irgendwie zusammen. Ich sehe mir in die Augen, in dieses Funkeln.
„Du siehst glücklich aus!“
„Ja, das bin ich auch!“

Autorin / Autor: Lydia, 14 Jahre