Umhüllt von Decken

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Marika, 14 Jahre

Meine Eltern haben zu mir schon immer gesagt, dass ich ein hochsensibles Kind war. Lange Zeit habe ich nicht verstanden, was das eigentlich bedeutet, bis ich anfing es selbst zu spüren. Diese Eigenschaft hatte mich verändert. Langsam, aber doch entschlossen machte ich die große Tür vor mir auf. „Hallo, kann ich Ihnen weiterhelfen?“, fragte mich eine Frau an der Empfangstheke. „Ja, ich habe einen Termin mit Dr. Keilbach.“ Ich sagte ihr meinen Namen und setzte mich dann in ein Wartezimmer. Der Raum war groß und viel dekoriert, aber es war mir nicht so wichtig. Mir war sowieso alles um mir herum egal. Egal. Da war es wieder. Dieses Wort verfolgte mich schon seit einiger Zeit, doch bis jetzt hatte ich nichts dagegen unternommen. Wie denn auch bitte? Ich konnte mich schließlich nicht dagegen wehren, ob ich wollte oder nicht. Endlich wurde ich aufgerufen und in ein etwas kleineres Zimmer gebracht. Einen Augenblick später wurde auch schon wieder die Tür geöffnet und ein Mann mittleren Alters kam herein. Er setzte sich in einen Sessel gegenüber von mir und räusperte sich. „Hallo, Frau Reiner. Ich bin Dr. Keilbach.“ Ich war noch nie gut im Umgang mit anderen Menschen und ich war schon immer sehr verschlossen. Deswegen kam von mir auch nur ein „Hallo“. Hier auf diesem Platz würde ich ab jetzt eine Stunde lang sitzen und schon jetzt war mir eher nach Fliehen zumute. „Sie kommen zu mir, damit ich Ihnen helfe, oder?“ Ich nickte. „Haben sie irgendwelche Beschwerden? Innerlich oder äußerlich?“ Mir war klar, dass er mehr von mir erwartete als ein Nicken. Ich schluckte noch einmal und sprach dann. Meine Stimme war ziemlich brüchig, aber man konnte gut verstehen was ich sagte. „Ich habe keinen Bezug mehr zu meinem Körper und ich möchte wieder Herr über meine Seele und mein Körper sein.“ Der Mann gegenüber von mir schrieb irgendwas auf ein Blatt. Er hörte auf zu schreiben und sah mich wieder an. Ich war kein besonders guter Menschenkenner, aber ich merkte, dass er mich ermutigen wollte weiterzusprechen. „Ich habe das Gefühl, dass mein Körper und meine Seele sich getrennt haben, dass er ein „Fremdkörper“ ist und mehr „mitläuft“ als zu mir zu gehören. Es fühlt sich an wie eine innere Erstarrung.“ So langsam fällt es mir leichter zu sprechen. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass es sein Beruf war oder ob er mir einfach sympathisch war. „Glauben Sie mir. Das ist eine Sache, die man in der Regel „beheben“ kann. Bei manchen dauert es länger und bei anderen kürzer. Man muss nur heraus kriegen, woran es liegt. Aber zuerst möchte ich wissen, wie steht es um Ihre körperlichen Bedürfnisse? Und wie sieht es mit Ihren Gefühlen aus?“
„Also, wenn ich esse, dann nicht aus Hunger oder Appetit, sondern weil ich weiß, dass ich etwas essen muss. Ich habe viel abgenommen, seitdem das so ist. Ich empfinde eigentlich gar nichts, weder Freud noch Leid und auch wenn ich das dringende Bedürfnis habe, kann ich nicht weinen. Sprechen tue ich auch nur noch wenig. Irgendwie ist alles so uninteressant und alles Grau in Grau. Wenn ich schlafe, dann erhole ich mich nicht richtig und tagsüber bin ich auch nicht wirklich fit. Es ist alles wie in Trance und ich fühle mich verloren und leblos. Und ich - “ Abrupt hörte ich auf zu sprechen als der Doktor wieder zu seinem Stift und Blatt griff. „Sprechen Sie ruhig weiter. Ich höre Ihnen zu und mache mir nur nebenbei ein paar Notizen.“ Ich dachte darüber nach, was ich gerade gesagt hatte. Normalerweise sagte ich wirklich nicht viel, aber ich fühlte mich in seiner Gegenwart unglaublich wohl und plötzlich fiel mir das Sprechen auch nicht schwer. Dieser Schmerz in mir war zwar immer noch standhaft da, aber ich hatte das Gefühl, dass es sich ändern würde. „Ich möchte nichts mehr an mich heran lassen. Ich würde sagen, dass ich zwar noch in der Hülle lebe, aber mein Körper ist mir total egal. Ich mach mich nicht mehr hübsch und ich ziehe einfach irgendwelche Sachen an.“ Ich schaute an mir herunter. Meine Hände waren rau und die Nägel ungepflegt. Meine Hose passte nicht zur Bluse und die Bluse nicht zu mir. Sie war bunt und schön. Ich hatte sie gekauft, als ich noch glücklich und zufrieden war. In meinem Gesicht hatte es aber wahrscheinlich die größten Spuren hinterlassen. Meine Haut war schlaff und eingefallen. Unter den Augen waren große dunkle Ringe und meine Lippen aufgesprungen. Ich merkte, dass auch er mich betrachtete. Ich schwieg, weil es nichts mehr zu sagen gab und im Raum wurde es still. „Gab es einen Vorfall in Ihrem Leben oder etwas Ähnliches, wieso das passiert ist?“

„Also, ich habe lange Zeit meine wirklichen Bedürfnisse verleugnet und mehr eine Rolle gespielt als die Person zu sein, die ich eigentlich bin. Ich habe mich um die Probleme anderer Leute gekümmert und meine Eigenen in mich hineingefressen und nicht über sie gesprochen.“ Während ich sprach, nickte er die ganze Zeit und seine Stirn legte sich in Falten. „Dann tun Sie es jetzt! Erzählen Sie mir Ihre Probleme egal, ob sie aktuell oder längst vergangen sind.“

„Also, mein ehemaliger Freund. Er war meine einzige Bezugsperson und als wir uns trennten, habe ich angefangen mich so leer zu fühlen. Als ich dann aber mein „neues Leben“ beginnen wollte, da ist mir wieder alles entglitten und in mir ist eine innere Verunsicherung aufgetreten. Um wieder neu aufzustehen hat mir eben eine Bezugsperson gefehlt, die mir den Rücken gestärkt hätte. Außerdem kann ich meinen Körper nicht mehr richtig wahrnehmen und überfordere ihn dadurch oft. Ich weiß nicht richtig, wo mein „Umfang“ ist. Bitte helfen Sie mir. Ich hab dadurch schon viele Fehler in meinem Leben getan und ich will so nicht weiterleben. Es macht mich immer mehr kaputt.“ Dr. Keilbach runzelte wieder seine Stirn bis er sagte: “Ich habe mal ein Buch über den Umgang mit hochsensiblen Kindern gelesen. Mir ist klar, dass Sie kein Kind sind. Trotzdem könnte es funktionieren. Darin stand, dass man das Kind in eine Decke wickeln soll, damit es sich wieder spürt. Wenn Sie mich lassen, dann würde ich es gerne ausprobieren.“ Weil ich ja streng genommen keine andere Wahl hatte, nickte ich und stand auf. Er holte eine Decke und hüllte mich langsam und sorgsam ein. Als er fertig war, spürte ich meinen Körper mehr als davor. Das Gespräch und die Decke hatten mir geholfen. Zwar war ich noch nicht wieder komplett der Mensch wie davor. Aber ich hatte den Weg gefunden. Umhüllt von Decken wusste nicht was die Zukunft mir bringt, aber in diesem Moment fühlte ich mich ein bisschen befreiter von all meinen Lasten.

Autorin / Autor: Marika, 14 Jahre