Die, die ich nie sein wollte

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Linn, 20 Jahre

Ich stehe schon wieder vor dem Spiegel. Schaue mich an: Meine Füße, die Schienbeine, die Knie und die Oberschenkel. Meine breite Hüfte, meinen Bauch und meine Brüste. Diese verdammten Brüste. Meine Blicke wandern zu meinem Hals, hinauf zu meinem Kinn, dem Mund, der Nase und dann schaue ich mir in die Augen. Lange. Die Augen in dem Spiegel sehen traurig aus. Verzweifelt, hilflos irgendwie. Ich fahre mir mit einer Hand durch die Haare. Blonde, kurzgeschnittene, strubbelige Haare. „Mit dem Haarschnitt siehst du aus wie ein Junge“, sagt meine Oma immer. Das stimmt nicht, die breite Hüfte, die Brüste, mein Gang, meine Stimme… ich bin kein Junge. Ich bin ein Mädchen und jeder kann es sehen. Nein – mein Körper ist ein Mädchen. Und ich? Ich weiß es nicht.

Was macht ein Geschlecht aus? Der Körper? Die Klamotten? Die Anderen? Man selbst?

Ich sehe aus wie ein Mädchen. Ich liebe Mädchen. Also bin ich lesbisch.
Aber ich verstehe Mädchen nicht. Ich verstehe Jungs. Ich kann mir nicht vorstellen mein eigenes Geschlecht zu lieben. Ich fühle mich hetero, nicht homo.
Wie es sich wohl anfühlt ein Mann zu sein? Einen Bart zu tragen? Im Stehen pinkeln zu können? Durch die Männerabteilung des Modehauses zu schlendern, ohne schief angeschaut zu werden?

Ich nehme mir einen Schal und binde ihn mir fest um die Brust. Ziehe ihn so fest an, wie ich nur kann. Ich will diese Dinger nicht haben. Will sie nicht mehr sehen, nicht spüren, nicht wissen dass sie noch da sind.
Schnell ziehe ich mir ein T-Shirt über. Flach, kaum Ausbeulungen zu sehen. Das gefällt mir.
Jetzt die Boxershorts. Auch keine Ausbeulung. Also wieder ausziehen, Unterhose, eine Sockenknäul vorne rein und Boxershorts drüber. Das sieht schon besser aus. Jetzt noch eine Jeans, weit und lässig. Socken an die Füße, Fußballschuhe drüber.

Jetzt meine Stimme. Tief muss sie klingen, tiefer als jetzt. Ich übe ein paar Sätze. Klingt nicht sehr überzeugend. Ich nehme mir vor jeden Tag zu üben.
Nun mein Gang. Ich laufe auf und ab. Wie bewegt sich ein Mann? Plump? Kräftig? Ich schaue an mir herunter. Elegant sieht es aus, leicht. Weiblich. Auch das werde ich üben.

Vor dem Spiegel bleibe ich stehen und schaue hinein. Mein Körper ist weiblich. Ich sehe es ihm an. Meine Hüften, meine Stimme, meine Bewegungen, sie verraten mich noch zu sehr.
Aber mein Inneres stimmt.
Ich stimme.

Nadine gibt es nicht mehr.
Nadine heißt jetzt Nils.

Autorin / Autor: Linn, 20 Jahre