Vier Geschichten über die Bedeutung von wahrer Schönheit

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Nadine, 15 Jahre

Arnold Ritter, Laborant in einer Kosmetikfirma:
Die Ratte zittert am ganzen Körper und ich streiche ihr beruhigend über das verklebte Fell. Das Zeug, das ich heute an ihr getestet habe, hat ihre Augen unnatürlich rot gefärbt. Vermutlich ist sie blind. Mit etwas Glück ist es auch nur entzündet.
Ein bisschen tut mir das kleine Ding in meinen Händen leid, doch es ist nun einmal mein Job. Es nicht der beste und oft tut es mir weh, die Tiere so leiden zu sehen, aber was soll ich tun? Selbst wenn ich hier nicht arbeite, werden die Kleinen gequält. Ob ich dafür sorge oder ein anderer, ist auch schon egal.
Die Ratte quiekt ängstlich. Ich stecke sie wieder zu den anderen in den Käfig zurück. Sie sehen alle schrecklich aus. Verunstaltet. Mager. Ängstlich.
Ich möchte nicht in ihrem Körper stecken. Auch wenn ich mich in meinem auch nicht sonderlich wohl fühle.
Mein Blick bleibt an einem der Versuchstiere hängen. Es liegt regungslos da. Atmet nicht mehr.
Ich brauche kein Experte zu sein, um zu wissen, dass das Tier tot ist.
Während ich Leiche anstarre, wird mir bewusst, wie schrecklich es ist, dass dieses Leiden vermeidbar wäre. Die Tiere müssten nicht leiden und einen qualvollen Tod sterben.
Aber die Kundschaft will es wohl so.
Was die Menschen für ihre Schönheit nicht alles in Kauf nehmen, denke ich, während ich die Leiche aus dem Käfig hole.

Ein Bettler:
Die alte Frau schmeißt ein 10-Cent-Stück in meinen Café-Becher. Ich nicke ihr kurz zu und wende meinen Blick dann wieder auf die vorbeilaufenden Menschen.
Trotz der Decke, auf der ich sitze, fühle ich den kalten Boden unter mir. Es ist November und die Temperaturen sinken spürbar. Aber es gibt nichts, was ich lieber tun würde als hier mit meiner Gitarre und meiner Stimme anderen ein Lächeln zu zaubern.
Ich mag es, stundenlang dazusitzen und mich an meiner Musik zu erfreuen.
Die verachtenden Blicke, die mir immerzu zugeworfen werden, stören mich schon lange nicht mehr. Es ist mir egal, wenn sie die Nase rümpfen, nur weil ich seit drei Wochen dieselbe Kleidung trage oder wenn ihnen meine Musik nicht gefällt.
Eine Frau mit blond gefärbten Haaren und gefährlich hohen Schuhen stöckelt an mir vorbei. Als ihr Blick auf mich fällt, verzieht sie spöttisch den rot geschminkten Mund.
Ich lächle sie an. Sie hat doch keine Ahnung.
Sie weiß nicht, was es bedeutet, glücklich zu sein.
Sie glaubt wirklich, ihr Eindruck, den sie bei den Menschen durch ihr Äußerliches schafft, könne sie glücklich machen. Sie glaubt, es mache sie begehrenswert und verschaffe ihr Selbstbewusstsein.
Ich habe nichts als Mitleid für sie übrig. Ich habe gelernt, dass die inneren Werte sind, die zählen und nicht das Ansehen seiner Mitmenschen.
Die Leute mögen mich für einen armen Bettler und Musiker halten, aber ich sitze hier freiwillig und genieße die Schönheit des Freiseins und des Glücks. Denn wahre Schönheit ist in unserem Inneren zu finden.
Wie man sie findet? Durch Selbstliebe.
Ich habe sie gefunden.

Jasmin, Model:
Mein Gesicht ist eine starre Maske. Es kommt mir vor, als würde ich seit Stunden nur übertrieben lächeln. Ich muss kurz blinzeln, weil ich vor dem ständigen Blitz nichts mehr sehen kann. Marks erhitztes Gesicht taucht hinter der Kamera auf.
„Sei nicht so verkrampft! Wir haben nicht mehr viel Zeit, die Maske hat vorhin viel zu lange gedauert!“
Sein Kopf ist hochrot vor Aufregung und ich schlucke lächelnd meinen Ärger hinunter. Mark ist ein Idiot. Aber das sind hier alle!
Schon nach dem zweiten Shooting habe ich meine Entscheidung bereut. Ich hätte den Vertrag nicht unterschreiben dürfen. Ich hätte mir einen richtigen Beruf suchen sollen, statt auf diese heuchlerischen Idioten hereinzufallen!
Am Anfang haben sie mich noch gelobt, mir gesagt, wie schön ich doch sei, aber jetzt … jetzt bin ich für sie nichts weiter als ein Roboter, der gefälligst zu funktionieren hat. Alles, was Mark und die anderen interessiert, ist mein Körper und mein Auftreten.
ICH bin ihnen komplett egal, solange ich mache, was sie wollen.
Ich bin nur eine leere Hülle. Ich bin kein Mensch. Nur ein Werkzeug.
Plötzlich habe ich Tränen in den Augen. Aber nicht wegen dem Blitzlicht.
Mark rauft sich die Haare. Mitleid kann ich von ihm sicherlich nicht erwarten.
„Verdammt! Jetzt stell dich nicht so an! Wenn das so weiter geht, können wir das vergessen!“
Ich würde es gerne vergessen, denke ich. Ich will nicht auf diese Art schön sein. Ich will nicht für meinen Körper bezahlt werden. Nein, ich will das man MICH schätzt und MICH wertet und nicht mein Äußerstes.
Ich fühle mich nicht wie die wahre Schönheit, die ich sein sollte.

Lena, eine Blinde:
Ich sitze mit meiner besten Freundin auf einer Parkbank und lausche dem Gesang der Vögel, als Merle unruhig hin und herrutscht.
„Was ist?“, frage ich sie, die Augen geschlossen.
Ich merke, wie sie mit der Antwort zögert.
„Sag es ruhig“, ermuntere ich sie.
Merle holt tief Luft. „Also gut. Hast du nicht manchmal das Gefühl etwas zu … verpassen? Stört es dich nicht, all die schönen Dinge nicht zu sehen?“
Ich lächle wissend in ihre Richtung. „Ach, Merle“, sage ich, als wäre sie ein kleines Kind.
„Schönheit kannst du doch nicht nur sehen!“
„Aha.“
„Schließ die Augen“, sage ich sanft.
„Okay und jetzt?“, fragt Merle.
„Was hörst du? Was riechst du? Was schmeckst und fühlst du?“, frage ich sie.
Nach kurzem Zögern antwortet sie: „Ich höre die Vögel zwitschern und es riecht nach Wald und … schmecken kann ich nichts. Aber ich spüre die Sonne auf meiner Haut.“
Ich muss schmunzeln. „Ist der Vogelgesang nicht wunderschön? Und der Geruch von Wald und Wildblumen ist doch wunderbar, oder? Und die Wärme die, die Sonne ausstrahlt.“
„Ja“, haucht sie.
„Hättest du es auch mit offenen Augen, als so wundersam und schön empfunden?“
Ich höre, wie sie den Kopf schüttelt. „Nein.“
Ich grinse. „Siehst du, manchmal muss man die Augen schließen, um das Schöne zu sehen.“
„Was für weise Worte“, lächelt Merle.
Ja, die weisen Worte einer, die niemals etwas gesehen hat, denke ich. Doch auch für eine Blinde ist diese Welt wunderschön, denn wahre Schönheit sieht man nicht mit den Augen.

Autorin / Autor: Nadine, 15 Jahre