Wendepunkt

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Felicitas, 14 Jahre

Ich erwache schon früh. Wie jeden Morgen. Ich blicke auf und schaue durch das runde, schäbige Fenster hinaus, wo sich ein kalter und düsterer Novembertag ankündigt. Ich sehe den  Schneeflocken zu, wie sie ihren eisigen Tanz aufführen und mit federleichtem Schwung, ganz still und leise weiter nach unten fallen. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich noch etwas Zeit für mich habe. Halb fünf, um diese Zeit schlafen normale Menschen noch. Doch mir gefällt es, unter meiner warmen, kuscheligen Decke dem Morgen zuzusehen, wie er langsam heraufzieht. Noch ein bisschen Zeit ohne den schwierigen Alltag und ohne das ewige Gefühl, nirgends dazuzugehören. Das Licht einer Straßenlaterne fällt durchs Fenster und wirft die Schatten der weißen Flöckchen an meine Zimmerdecke. Ich mag die Dunkelheit und ich mag die Schatten. Das bin ich ja im Grunde auch. Nur ein Schatten, ein fast unsichtbares, aber störendes Geschöpf. Ich lasse die Gedanken schweifen. 'Verpiss dich', haben sie gesagt. 'Dein Anblick tut ja in den Augen weh.' Auch Markus war dabei. Auch er hat gelacht und mit dem Finger auf mich gezeigt. Und dann hat er Dana geküsst. Seine Freundin. Seine hübsche, blonde, fröhliche, tolle Freundin. Mit ihrer unbeschreiblich perfekten Figur. Sie hat auch gelacht. Ihr künstliches, glockenhelles Lachen, das alle in ihrem Umfeld so verzaubert. Alle, außer mich. Denn ich kenne sie. Es ist gleich sechs Uhr früh. Wie schnell die Zeit vergeht. Aber es ist schön, wenn es bald vorbei ist. Wenn ich wieder aus dem Bus steigen kann und mich Zuhause unter meiner Bettdecke verkriechen, wenn ich all die Gerüchte und Schikanen und Beleidigungen hinter mir habe. Viertel nach sechs, halb sieben. Gleich kommt meine Mutter, um mich zu wecken. Um mir wiedereinmal zu versichern, dass heute alles besser wird. Aber sie hat keine Ahnung. Ich hieve mich aus dem Bett und bleibe schwankend stehen. Wann konnte ich zuletzt meine Zehen sehen und wann bin ich das letzte mal mit gutem Gewissen ins Schwimmbad gegangen? Früher habe ich das oft gemacht. Jetzt nicht mehr. Ich ziehe meine Hose an. Zu eng. schon wieder. Als ich versuche, den Knopf zu schließen, reißt er ab. Ich ziehe die nächste aus meinem Schrank. Sie hat einen lockeren Bund. Sie passt. Ich zwänge mich in ein T-shirt. Wiedereinmal schäme ich mich für die vielen Wölbungen, die unter dem Shirt deutlich zu erkennen sind. Jetzt klopft es an der Zimmertür. Mama, die mich wecken will. „Guten Morgen.“, bringe ich zustande, dann muss ich den Mund schließen, um einen Schreikrampf zu vermeiden. Mama sieht mich einfach nur an. Mitleid und Trauer spiegeln sich in ihren Augen wieder. Ich versuche sie zu verdrängen. Ich habe keinen Hunger. Das Frühstück lasse ich unberührt auf meinem Teller liegen. Waschen, Zähneputzen. Dann öffne ich die Haustür und verlasse mit meiner dicksten Jacke das Haus. Ich laufe langsam, denn ich versuche erst an der Bushaltestelle anzukommen, wenn die anderen schon im Bus sitzen. Markus soll mich nicht sehen. Er wird mich nie so wahrnehmen, wie ich ihn immer wahrgenommen habe. Trotz der Jacke wird mir kalt und ich bin erleichtert, als ich die Haltestelle erreiche und sehe, wie der Bus gemächlich die Straße entlangkommt. Markus sieht mich. Seine Freunde tun es auch und ich sehe, wie einer von ihnen etwas sagt. Die anderen brüllen los, vor Lachen und ich weiß, dass sie über mich geredet haben. Wie immer ziehe ich Blicke auf mich, als ich mich durch die Bustür quetsche. Einige davon sind genervt, andere voller Verachtung. Es schmerzt mich, wenn ich bedenke, dass auch von Markus die Verachtung herrührt. Ich spüre ein leichtes Ruckeln, als der Bus sich in Bewegung setzt. Natürlich ist der Platz neben mir unbesetzt. Niemand will neben einer wie mir sitzen. Ich versuche meine Tasche so vor mich zu stellen, dass ich wenigstens ein bisschen dünner wirke. Keine Chance. Immer noch dasselbe Gefühl. Immer noch keiner da, der mich mag, wie ich bin. Nicht mal ich kann mich noch leiden. Halt! Jetzt verstoße ich gegen meine Regel: Wer auch immer etwas gegen dich hat, lass dich nicht unterkriegen. Aber eigentlich habe ich dieses Prinzip schon vor drei Jahren aufgegeben. Vor drei Jahren. Als alles begann. Vor drei Jahren, als ich immer mehr aß und mich weniger bewegte. Vor drei Jahren, als meine beste Freundin sich den Jungen schnappte, den ich aus tiefstem Herzen liebte. Vor drei Jahren, als keiner mehr da war. Kein einziger. Ich schaue mich verstohlen um und wende hastig den Blick ab, als ich Markus entdecke. Markus neben Dana. Neben dem Mädchen, das einmal meine beste Freundin war. Der Bus biegt jetzt um eine Ecke. Kurz dahinter, gegenüber eines verwitterten, alten Gebäudes steht unsere Schule. Der Fahrer hält und ich steige wankenden Schrittes die Stufen hinunter. Laufe über den trüben Pausenhof. Auf einmal ein Schlag am Hinterkopf. Ich drehe mich um und bekomme promt noch einen Schneeball ins Gesicht. Es tut weh. Aber es tut noch mehr weh, dass es Markus ist, der ihn geworfen hat. Alle lachen und ich weiß nicht was ich dagegen machen soll. Ich bin nicht schlagfertig. Aber wenn ich Glück habe reicht es ihnen für heute und sie lassen mich in Ruhe. Ich versuche, so schnell wie möglich das Schultor zu erreichen, um weiteren Schikanen zu entgehen. Jeden Tag dasselbe. Und nie tue ich was dagegen. Ich wüsste nicht einmal, was. Ich habe keinen, der mir hilft. Nur die große Leere um mich herum, die mir Gesellschaft leistet. Da ist die Klassenzimmertür. Ich schaffe es, durch die Tür zu kommen, ohne, dass jemand mich sieht. Doch in der Klasse kann ich mich nicht verstecken. Unter den kritischen Augenpaaren schrumpfe ich zusammen. Ich fühle mich unwohl. Ich setzte mich auf meinen Platz. Als der Unterricht beginnt, schweifen meine Gedanken ab. Ich bekomme nichts mit. Ich blicke aus dem Fenster ins Schneetreiben, dass gerade eingesetzt hat. Ich höre, wie der Lehrer spricht, doch mein Hirn verarbeitet keine Informationen mehr. Ich werde schlagartig aus meinen Gedanken gerissen, als der Lehrer verkündet, dass wir eine neue Schülerin bekommen. „Zoey“, sagt er, heißt sie. Sie soll wohl neben mir sitzen. Klar. Neben mir ist der einzige freie Platz. Der Lehrer öffnet die Tür und ein Mädchen tritt ein. Sie ist hübsch. Wellige, braune Haare und strahlende, dunkelgrüne Augen. Sie ist schlank und trägt modische Klamotten, die ihr wirklich fabelhaft stehen. „Setz dich bitte zu Nalima“, sagt der Lehrer jetzt. Ich habe es gewusst. Gleich wird sie fragen, ob sie nicht lieber alleine sitzen kann. Ob es keine andere Möglichkeit gibt, als neben dem merkwürdigen, dicken Mädchen in der vorletzten Reihe zu sitzen. Doch zu meinem Erstaunen nickt sie und kommt auf mich zu. Sie lächelt. Mir wird ganz warm. Schon ewig habe ich niemanden mehr in meiner Gegenwart lächeln sehen. „Hi, ich bin Zoey“, stellt sie sich vor. Doch ich traue dieser Ruhe nicht. „Nalima“, sage ich kurz. Sie setzt sich neben mich. Es ist ein schönes Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Als es zur Pause läutet, erwarte ich, dass sie versucht sich in die Gruppe der coolen Leute zu integrieren. Ich erwarte, dass sie mich fragt, wer der große, schwarzhaarige, gutaussehende Junge ist, der mit seiner Clique auf dem Pausenhof steht. Deshalb gehe ich lieber gleich. Ich gehe in die hinterste Ecke des Schulhofes, wo mich niemand sieht. Ich bemerke, wie mir jemand folgt. Ich drehe mich um, in der Erwartung auf weitere Drangsalierung, als ich bemerke, dass es Zoey ist. „Hallo.“, sagt sie zögernd. Ich sage nichts. Schaue sie einfach nur an. „Es tut mir leid, dass ich dir nachlaufe.“ Sie will, dass ich irgendwas dazu sage, doch ich wüsste nicht, was. Sie merkt das offensichtlich, denn sie fährt fort: „Hör mal. Ich bin neu hier. Ich kenne keinen. Deshalb würde ich dich gerne kennenlernen. Anschluss zu finden fällt mir schwer, weißt du?“ Sie will mich kennenlernen? „Wieso ich?“, frage ich verhalten. „Naja. Du bist mir sympathisch“, sagt sie gelassen. Das ist das netteste, was in den letzten drei Jahren zu mir gesagt wurde. Ich muss ein bisschen lächeln. „Also“, sagt sie jetzt freundlich, „Hast du nicht Lust, mit mir in der Schulkantine einen Kaffee trinken zu gehen? Ich weiß nicht wo sie ist, aber das könntest du mir ja vielleicht zeigen.“ Sie meint es ernst. Ich nicke. Obwohl es hier draußen so furchtbar kalt ist, wird mir so richtig warm ums Herz. Es erkaltet jedoch gnadenlos, als ich eine Stimme höre. Seine Stimme. „Hey, Fettkloß. Was stehst du denn mit der neuen rum. Die ist doch viel zu hübsch für dich.“ Markus. Er erwartet, dass Zoey ihm zu Füßen liegt, wie alle anderen Mädchen. Er erwartet, dass ich mich abwende und mit hängendem Kopf davongehe. Ich bin gerade dabei mich umzudrehen, damit das verräterische Glitzern in meinen Augen unbemerkt bleibt, da passiert es. Einer von Markus Freunden legt den Arm um Zoey. Jede andere würde spätestens jetzt ihren eigenen Willen verlieren. Doch Zoey tut etwas, dass sich keiner bisher getraut hat. Sie windet sich aus der Umarmung. Dann holt sie aus und verpasst ihm eine schallende Ohrfeige. Alle stehen bedröppelt da. Keiner rührt sich. Nur der Junge hält sich die Backe und sieht ziemlich überrascht aus. Markus hat aufgehört, zu grinsen. Und dann tut sie noch etwas. Etwas, das mein Leben komplett verändert. Sie nimmt mich an der Hand und sagt: „Siehst du, Nalima, ich weiß genau, warum du mir sympathisch bist.“ Und dann zieht sie mich mit. Mich. Es ist ihr egal, dass ich dick bin. Oder, dass die coolsten Leute der Schule sie jetzt nicht ausstehen können. Sie hat mir eine neue Tür geöffnet. Sie hat mir gerade die Möglichkeit dazu gegeben, endlich wieder jemanden „Freund“ zu nennen.