Wo das Leben vollständig war
Beitrag zum Lyrik-Wettbewerb Connected von ravv, 19 Jahre
Ein alter Mann lebte allein in einem kleinen Haus am Rand des Dorfes. Früher lachten hier Kinder, in der Küche roch es nach frischem Brot und abends sang seine Frau leise Lieder. Jetzt hörte man in den Räumen nur noch das Ticken einer alten Wanduhr.
Diese Uhr hatte ihm seine Frau am Tag ihrer Hochzeit geschenkt. Sie war immer genau gelaufen, als würde sie fürchten, auch nur einen Augenblick ihres gemeinsamen Lebens zu verpassen.
Jeden Morgen setzte sich der alte Mann ans Fenster, trank Tee und beobachtete, wie der Wind die Äste des alten Apfelbaums bewegte. Er wartete auf etwas, obwohl er selbst nicht mehr wusste, worauf.
Eines Nachts wachte er von einer Stille auf. Es war eine wahre Stille, so vollkommen, dass selbst das Herz zu zögern schien, um sie nicht zu brechen. Die Uhr an der Wand war stehen geblieben. Die Zeiger zeigten 3:17.
Der alte Mann sah sie an und lächelte sanft. Er erinnerte sich, dass er genau um diese Zeit vor vielen Jahren zum ersten Mal neben ihr aufgewacht war. Sie hatte geschlafen und seine Hand gehalten und er hatte damals gedacht, wenn dieser Moment ewig dauern könnte, wäre er glücklich.
Er stand auf, nahm die Uhr vorsichtig von der Wand und stellte sie auf den Tisch. Er versuchte, sie aufzuziehen, doch die Zeiger bewegten sich nicht mehr. Da verstand er, dass die Uhr nicht mehr gehen sollte. Sie sollte dort bleiben, wo das Leben vollständig gewesen war.
Am nächsten Morgen fand die Nachbarin, die nach ihm sehen wollte, den alten Mann am Fenster sitzend, die Uhr in den Händen. Er wirkte friedlich, als wäre er einfach eingeschlafen.
Draußen wiegten sich die Äste des Apfelbaums sanft im Wind und die Zeit eilte nicht mehr.
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