Tödliche Freundschaft - Teil 1

Anne-Katrin Kreisel

Alles fängt in der sechsten Klasse an, als ich sie kennen lerne. Die Lehrerin stellt uns die Neue als Maria Maier vor. Maria komme aus Regensburg in unsere kleine Stadt in Sachsen, ihre Eltern haben hier ein nettes Einfamilienhaus gefunden.

Ich sitze alleine an meiner Bank. Ich bin immer die, auf der alle rumhacken, weil ich keine Freun-de habe. Ich bin allein. Der Abschaum, der Überfluss. Die, die keiner braucht. Irgendwer muss ja die Rolle der Außenseiterin übernehmen, oder? Tja, das bin dann wohl ich. Dann sagt die Lehre-rin, dass sich Maria doch neben Anni, neben mich setzen solle. Mir ist das gleichgültig. Maria sieht gepflegt aus, sie trägt teure Sachen. Auch ihr Ranzen scheint ziemlich neu. In meinen Augen sieht sie aus, wie eine von diesen reichen Tussis, die sich einbilden, etwas Besseres zu sein. Des-wegen ist sie mir vom ersten Moment an egal. Glaube ich zumindest.

Maria kommt mit einem schüchternen Lächeln auf mich zu und setzt sich neben mich. Aufmerk-sam verfolgt sie den Unterricht. Vorsichtig betrachte ich sie aus dem Augenwinkel. Sie hat blon-des, langes, zu einem Zopf geflochtenes Haar. Ihre Augen sind katzengrün und ihre Lippen leicht rosa. „Anni! Schläfst du?“, reißt mich die Lehrerin aus meinen Gedanken. Ich antworte wahrheitsgemäß: „Ja. Können Sie die Frage noch mal wiederholen?“ Unsere Mathelehrerin verdreht die Augen und guckt leicht angenervt, aber sie wiederholt die Frage trotzdem: „16 zum Quadrat.“ Oh, die Quadratzahlen habe ich nicht gelernt. Maria merkt, dass ich heute keine Antwort mehr zustande bringe und nuschelt die Antwort unauffällig in mein Ohr. Ich nicke leicht mit dem Kopf als Zeichen der Dankbarkeit und sage laut und sicher: „256.“ Hoffentlich stimmt das wenigstens. Die Mathetante nickt und nimmt den Nächsten dran. Ich entschließe mich noch während dieser Stunde, die Neue zu akzeptieren.

Es klingelt zur Pause. Maria heftet sich an meine Sohlen. Auf dem Schulhof verziehe ich mich in meine einsame Ecke. Falsch, diese ist nicht mehr einsam, denn Maria folgt mir auch bis hier hin. Mit 3 Meter Abstand zu mir stellt sie langsam ihren Ranzen auf die Erde. Ich packe meine Schnit-te aus und beiße rein. Maria packt ihre Schnitte aus und beißt rein. Ich beobachte sie. Sie beobach-tet mich. Mir kommt das albern vor: „Wenn du jetzt schon neben mir sitzt, kannst du auch auf eine nähere Distanz rankommen.“ Maria nickt, schleift ihre Schultasche an einem Riemen hinter sich her und kommt auf einen Abstand von 30 cm an mich ran. Schweigend kauen wir unsere Brote. Dann fragt mich meine neue Banknachbarin: „Wie alt bist du? Wo wohnst du?“ Ich bleibe äußerlich ziemlich unberührt, aber innerlich freue ich mich riesig, dass sie mich an-spricht, denn ich habe die Hoffnung, dass ich vielleicht eine Freundin bekommen könnte: „13. Lindenstraße 17a. Und du?“ Mein Alter ist etwas zu hoch für eine sechste Klasse, aber ich bin auch einmal sitzen geblieben. Sie lächelt. „Ich bin 11 und wohne zwei Straßen weiter im Bauernweg 23.“ Das ist wirklich nicht weit von meiner Wohnung entfernt. „Kann ich heute Nachmittag zu dir kommen? Vielleicht kannst du mir auch ein bisschen diese Stadt hier bekannt machen! Ich kenne ja nur den Weg bis zum nächsten Supermarkt. “, sie schwenkt mit ihrem Arm durch die Gegend. Ich überlege. Heute bekommen wir wahrscheinlich keine Hausaufgaben, nur Vertretungsstun-den mit wildfremden Lehrern. Na gut, die erste Stunde war wie immer bei Frau Weimar, aber bei ihr haben wir ganz leichte Hausaufgaben bekommen. Außerdem habe ich heute noch nichts vor. Also schön: „Um 3 bei mir. Dritte Etage unter Karamer. Alles klar?“ Sie nickt.

Zu Hause mache ich schnell meine Hausaufgaben, um dann wie auf heißen Kohlen auf Maria zu warten. Ob sie die Wohnung findet? Ob sie sich meinen Nachnamen gemerkt hat? Es ist doch erst halb 3 Uhr nachmittags. Kein Grund zur Hektik. Ich lese besser mein spannendes Buch. Unkon-zentriert zwar, aber es ist eine Ablenkung. Die Uhr schlägt drei. Ich schrecke hoch und springe zum Fenster. Da kommt sie. Soll ich jetzt an der Wohnungstüre warten oder zum Eingang runter gehen? Nein, dann wirke ich so, als ob ich hinter dem Fenster wie auf heißen Kohlen auf sie warten würde. Meine innere Stimme sagt mir, dass es doch genau so gewesen ist! Was soll’s, ich warte bis sie klingelt. DING DONG! Wer sagt’s denn. „Hi, zieh die Schuhe aus und komm mit“, begrüße ich den heiß erwarteten Besuch. Maria befolgt meine Anweisungen und wenig später sitzen wir auf dem Bett in meinem Zimmer. Wir schweigen uns an. Ich stoße ihr leicht mit dem Ellenbogen in die Seite: „Was nun, du wolltest doch unbedingt zu mir kommen!“ „Ja. Hier in der Nähe soll ein Spielplatz sein... Kannst du mir den mal zeigen?“ Ich nicke, stehe aber nicht auf: „Jetzt?“ „Ja klar oder denkst du, ich schlage etwas vor, damit wir das in zwei Jahren machen?!“ Ich grinse und erhebe mich. „Na dann los!“ Maria hopst hinter mir her, und wir ziehen unsere Jacken an.

„Da ist er“, gemeint ist der große Spielplatz. Ich lasse meinen Blick über die Rutsche, die Kletterburg, den Sandkasten und die Bänke schwei-fen. Ich muss zugeben, das Teil hat schon mal bessere Tage gesehen. Maria steht enttäuscht da: „Unser Spielplatz in Regensburg ist viel schöner gewesen...“ Das kann ich mir gut vorstellen. Ich setze mich auf eine Bank und sie setzt sich neben mich. Wir unterhalten uns eine Weile über Dinge, die man als „Grundinformationen einer Freund-schaft“ zusammenfassen könnte. Ich erfahre, dass sie ein Einzelkind ist, in Regensburg am 19. Dezember 1996 geboren wurde und „Rihanna“ mag. Ich habe einen 17- jährigen Bruder namens Lars und was mein Geburtsdatum betrifft, bin ich an einem 29. März im Jahre 1994 zur Welt gekommen. Mein Musikgeschmack geht auch in eine völlig andere Richtung, ich mag eher Rock. Sie schaut auf ihre Uhr: „Ich muss nach Hause. Ciao, bis morgen.“ Ich hebe die Hand zum Abschied. Als sie nicht mehr zu sehen ist, bleibe ich noch auf der kalten Bank sitzen und denke über den Tag nach. Schließlich, gegen 21 Uhr, nach gut zwei Stunden Nachdenken, kehre ich nach Hause zurück. Der Ärger für mein spätes Erscheinen ist vorprogrammiert.

Da ist er auch schon, der Ärger: „Kannst du mir mal verraten, wo du den ganzen Nachmittag warst und warum du erst so spät kommst? Ich denke, ich kann mich auf dich verlassen, wenn ich länger arbeiten muss!“, herrscht mich meine Mutter an. Ich mache, dass ich so schnell wie möglich in mein Zimmer komme, um die Tür von innen abzu-schließen. Genervt und erschöpft falle ich auf mein Bett. Meine Mutter rüttelt wie blöde an mei-ner zugeschlossenen Zimmertür. Tja, Pech, die ist nun mal zu... und ich werde den Teufel tun, sie wieder aufzumachen!, denke ich. Ich schaue auf meinen Ranzen. Lernen? Ich habe jetzt absolut keinen Bock darauf... Im nächsten Augenblick bin ich eingeschlafen.

Am nächsten Morgen schießt mir als Erstes ein normalerweise unangenehmer Gedanke in den Kopf: Heute ist Freitag! Pure Erholung und Langeweile. Horror! Dieser Freitag aber soll anders werden: Maria! Ich werde sie besuchen!

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Autorin / Autor: Anne-Katrin Kreisel - Stand: 2. März 2009