Wassergrab - Teil 3

von Lina Rixgens

Bild "Boat II" von biloba; Quelle: photocase.de

Es ist 11:23 als Marie Eustmundt in Freiburg den Hörer abnimmt und erfährt, dass sie für längere Zeit nach Genf muss. In dem französischen Ort Aix-les-Bains wurde am Abend des vorigen Tages ein Mädchen von ihrem Vater als vermisst gemeldet. Sie wohnt in Freiburg und war zum Segeln in Frankreich, nahe der schweizer Grenze. Vor wenigen Stunden wurde sie von einem Jungen am Ufer des Lac Léman gefunden, bewusstlos und schwer verletzt. Zwei Stunden lang fährt die Kommissarin auf der A5 in Richtung Basel. Die Autobahn ist leer, sodass ihr Auto zwei weitere Stunden später auf den Parkplatz der Clinique rollt.

Dort trifft sie auf einen fünfzehnjährigen Schweizer, der sich ihr als Jean Godette vorstellt. „Ich habe eben mit dem zuständigen Arzt gesprochen“, beginnt Marie Eustmundt. Jeans Stimme ist gespannt: „Und, was hat er gesagt?“. „Lauren Rotiera, so heißt das Mädchen, befindet sich jetzt auf der Intensivstation. Sie liegt immer noch im Koma, ihr Zustand ist aber stabil.“ Ein Lächeln legt sich auf das Gesicht des Jungen. „Kennst du sie?“. Marie kennt die Antwort bereits, doch sie möchte es selbst hören. „Nein, ich habe sie vorher noch nie gesehen.“ „Kannst du mir die Stelle zeigen, an der du sie gefunden hast?“, fragt sie ihn. „Ja, sicher.“ Die Kommissarin sieht, wie er zögert. „Darf ich kurz zu - Lauren?“ „Ich denke, dass nichts dagegen spricht“.

Durch eine Glasscheibe sieht Marie Eustmundt, wie sich Jean langsam dem Bett nähert. Er kennt sie wirklich nicht. Sonst wäre er nicht so schüchtern in seinen Bewegungen. Die beiden scheint jedoch ein unsichtbares Band zu verbinden. Jean nimmt vorsichtig die Hand des Mädchens. * Die Autofahrt verläuft recht schweigsam. Jean empfindet das Schweigen aber nicht als unangenehm. Überhaupt erscheint ihm die Kommissarin sehr sympathisch. Sie hat eine neugierige Art und ein offenes, mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht. Er schätzt sie auf Ende zwanzig. Gerade streicht sie sich eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und stellt am Rande eines Wanderweges den Motor ihres BMW ab. Von nun an gehen sie zu Fuß weiter. Vor wenigen Stunden erst ist Jean genau diesen Weg entlang gelaufen. Nach weiteren acht Minuten hört der Weg auf und sie folgen seinen morgendlichen Fußspuren quer durch den Wald. „Woher kommt sie?“, Jean versteht erst, dass er laut gedacht hat, als die Kommissarin ihm eine Antwort auf seine Frage gibt: „Lauren lebt in Freiburg. Nur deshalb bin ich auch hier. Ihre Mutter kommt aus Spanien, ihr Vater, Stiefvater, aus Deutschland. Sie ist beim International Summer Trophy in Aix-les-Bains mitgesegelt. Eine internationale Segelregatta. Dort ist sie gestern Nachmittag allerdings nicht mehr an Land gekommen. Niemand wusste, wo sie geblieben ist. Ihr Stiefvater hat sie noch am späten Abend bei der Polizei als vermisst gemeldet. Und dann hast du sie auf der schweizer Seite des Lac Léman gefunden.“

****************************************************

Dort sind sie jetzt angekommen. Marie Eustmundt erklärt Jean, dass die Spurensicherung bereits hier war. „Sie sind über den See gekommen“, ergänzt sie. Jean nickt. „Kannst du mir zeigen, wo Lauren lag?“. „Hier!“, er deutet mit den Händen die Lage des Körpers an. „Die Beine hingen im Wasser.“ „Was hast du dann gemacht?“. Jean berichtet ihr alles, bis zu dem Moment, als das Boot im Genfer Hafen ankam. „Hast du noch jemanden gesehen, der hier in der Nähe war?“. Jean verneint. Die Kommissarin versinkt in ihren Gedanken. Diesmal ist sie diejenige, die laut denkt: „Wie ist sie hierher gekommen? Aix-les-Bains liegt knapp 80 Kilometer weit weg. Der Täter muss sie mindestens bis ans andere Ufer gebracht haben. Wenn sie dann schon bewusstlos war, wäre sie niemals hier angekommen. Und wenn sie noch bei Bewusstsein war…wäre sie nicht in den See gesprungen. Es sei denn, um zu flüchten. Oder der Täter –beziehungsweise die Täterin- hatte ein Boot.“ Abrupt dreht sich Marie Eustmundt zu Jean um. Sie hat beinahe vergessen, dass er die ganze Zeit neben ihr steht: „Ich glaube, wir gehen jetzt besser zurück.“ Auf dem Rückweg hängt jeder seinen Gedanken nach. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragt die Kommissarin ihn. „Ja, gerne. Wenn das möglich ist.“ Vor dem Haus der Godettes angekommen, dreht sie sich noch einmal zu Jean um: „Danke! Ich denke, wir sehen uns noch mal.“ Jean verabschiedet sich und schlägt die Autotür zu. Marie fährt los und schaut ihm durch den Rückspiegel lange nach. Er bleibt noch ein paar Sekunden auf dem Bürgersteig stehen, dann geht er langsam in Richtung Haustür bis sie ihn aus dem Blickfeld verliert.

Lies weiter >>>

Autorin / Autor: Lina Rixgens - Stand: 18. Februar 2009