Wassergrab - Teil 1

von Lina Rixgens

Bild "Boat II" von biloba; Quelle: photocase.de

Er geht immer nach dem gleichen Muster vor, doch es fällt noch nicht auf, da er nach spätestens zwei Opfern das Land wechselt. Bis jetzt ging alles gut. Durch das Angeln konnte er sich immer bestens tarnen. Jetzt sind sie ihm aber mit dieser Regatta in die Quere gekommen. Hundertsechzig Teilnehmer, das hat er in der Zeitung gelesen. Eine Attraktion in diesem Kaff. Natürlich hat er die Koordinaten des Wassergrabes mitten im See, trotzdem aber plagen ihn Zweifel.

Lauren Maria Rotiera wohnt in Freiburg, der Vater ist Deutscher, die Mutter Spanierin. - Zuerst Informationen beschaffen, dann einen Plan zurechtlegen und ihn schließlich gut durchdacht ausführen. So hat er es bei den anderen auch gemacht. Diesmal hat er überstürzt gehandelt. Wie konnte sie ihn nur auf der weiten Wasserfläche entdecken? Er hat sie nur so übereilt getötet, weil sie ihn beobachtet hatte, sonst hätte er sich noch länger Zeit gelassen. Von nun an muss er vorsichtiger sein.

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Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Dieses Gefühl, wie in Trance zu leben, alles durch eine dicke Schicht Watte zu erleben; Jean kennt es schon seit er in die Schule kam. Es hat sich entwickelt, ausgeprägt, und warnt ihn seither immer, wenn sich eine außergewöhnliche Situation anbahnt. Dieses Gefühl lebt mit ihm wie eine Alarmglocke. Wenn sie anfängt zu läuten, vernebelt sich die Welt um ihn herum. Er geht auf Distanz, um das, was um ihn herum passiert, nicht an sich herankommen zu lassen. Es geschieht zu seinem eigenen Schutz. Jetzt wieder: Jean hört die Glocke schlagen. Vielleicht ist es auch nur das eigene Herz. Er läuft noch immer. Bald müsste er am See angekommen sein. Warum klopft sein Herz so stark? Der Herzschlag vermischt sich wieder mit dem Klang der Glocke. Ein paar hundert Meter weiter vorn sieht er durch die sich lichtenden Bäume das Glitzern der Sonne auf dem Wasser. Sie stehen links und rechts so dicht, dass niemand auch nur ahnen würde, was sich hinter ihnen verbirgt. Er selbst auch nicht, hätte er nicht, ausgestattet für den Orientierungslauf, Kompass und Karte dabei. Wenn der junge Schweizer seine beiden Hilfsmittel richtig auswertet, müsste er sich jetzt etwa zwei Kilometer südlich von Anières befinden. Die nächsten Wanderwege sind alle ein gutes Stück von seiner für den heutigen Tag ausgewählten Route entfernt. Während in Genf die meisten Menschen um diese Uhrzeit noch schlafen, scheint das Leben hier draußen schon in vollem Gange zu sein. Unzählige Vögel zwitschern, im Unterholz raschelt ein Tier und die Baumkronen wiegen sich im Rhythmus einer morgendlichen Spätsommerbrise. Die Natur hilft Jean dabei, seine Gedanken auszuschalten und einfach nur im Takt seiner Schritte in Richtung See zu laufen. Darum wundert es ihn umso mehr, weshalb er ausgerechnet jetzt das Gefühl hat, seine Füße ins Bodenlose laufen zu sehen: weiche, federnde Schritte, die aber nicht ankommen auf dem Waldboden. Es ist ein anderes Gefühl als sonst. So als versuchte sein Körper vergeblich eine Schutzhülle aufzubauen.

Dann sieht er sie. Von diesem Moment an, in dem er sie dort liegen sieht, noch halb im Wasser, weiß er, dass sie das Mädchen ist, nachdem er so lange Zeit schon vergeblich Ausschau hält. Bei ihrem Anblick lässt sein tranceartiges Gefühl komplett nach und neue Gefühle und Gedanken stürzen wie eine immense Welle über ihm zusammen: Wie lange er auf sie gewartet hat, auf welche absurde Weise er sie gefunden hat…und wie er sie verlieren wird. Wie lange Jean einfach nur da steht und sie anschaut, weiß er später nicht mehr. Es kommt ihm vor wie Stunden, wahrscheinlich waren es aber nur ein paar Sekunden, in denen ihm diese Gedanken wie Blitze durch den Kopf zuckten. Der Oberkörper des Mädchens ist mit Sonnenlicht überflutet, die Beine ragen ins Wasser, durch das kein einziger Lichtstrahl dringt. Es sieht aus, als wolle der See es in die Tiefe ziehen. Ihre dunkelblonden Haare glänzen ebenso wie die gebräunte Haut, die ihr ein leicht exotisches Aussehen verleiht. Die Augen sind geschlossen. Ihr T-Shirt ist wohl einmal hellgrau gewesen, jetzt haben sich Blätter und Erde darin verfangen und es fast schwarz gefärbt. Aber da ist nicht nur Schmutz, sondern auch etwas noch Dunkleres, Hartnäckigeres.

Jean fühlt am Hals ihren Puls. Überrascht stellt er fest, dass dieser noch vorhanden ist. Sie lebt! Er hat bereits nicht mehr damit gerechnet. Jean ist selbst erstaunt, wie selbstverständlich er jetzt handelt, seine eigenen Emotionen beinahe vollständig in den Hintergrund drängt. Sein Gehirn funktioniert scheinbar automatisch. Er hebt vorsichtig die kalten Beine des Mädchens aus dem Wasser. Sie trägt Shorts, allerdings keine Schuhe. Wahrscheinlich liegt sie schon seit mehreren Stunden hier und ist in Folge dessen stark unterkühlt. Die Wassertemperatur des Sees beträgt kaum 15°C. Um den Pulsschlag zu kontrollieren, überstreckt er vorsichtig den Kopf und versucht, ihren Atem zu spüren. Nein, er hat sich nicht getäuscht. Ein purer Glücksstrom erfasst ihn, der jedoch abrupt gebremst wird, als sein Blick erneut auf ihr Oberteil fällt. – Das Schwarze ist Blut! Warum ist ihm das nicht früher aufgefallen? Sie muss schon Unmengen an Blut verloren haben. Wie von selbst greift Jean jetzt in seine Hosentasche und zieht sein Handy hervor. Vor seinem inneren Auge sieht er noch, wie er am Morgen gezögert hat es mitzunehmen.

Nachdem er den Notruf abgesetzt und so präzise wie möglich angegeben hat, wo er sich befindet, macht er der Stimme am anderen Ende der Leitung mit wenigen Worten klar, dass es keine Möglichkeit gibt, über Land an die Unglücksstelle zu gelangen. Nachdem er aufgelegt hat, zieht er sein um die Hüften gebundenes Sweatshirt aus und wickelt das Mädchen damit so gut wie möglich ein, um wenigstens ihre vorhandene Körpertemperatur zu erhalten. Nebenbei registriert Jean, wie still es hier ist: Noch sind kaum Boote auf dem Wasser und selbst die zahlreichen Touristendampfer werden nicht vor 10.00 Uhr ablegen. Nur das Wasser plätschert leise ans Ufer.

Im Sommer vor zwei Jahren hat er einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Das hatte ihn so sehr interessiert, dass er sich immer mehr über dieses Thema informierte und sich momentan nach einem Praktikumsplatz in einem Schweizer Krankenhaus umsieht. Jean überlegt, ob es wichtiger ist, das Mädchen zuerst in die stabile Seitenlage zu bringen, oder ihre Blutung zu stoppen. Nach kurzem Abwägen entscheidet er sich dafür, sich erst einmal die Wunde anzusehen. Behutsam zieht er ihr Oberteil ein Stückchen nach oben und stellt erschrocken fest, dass links vom Bauchnabel ein etwa fünf Zentimeter breiter Schnitt klafft, aus dem immer noch Blut quillt. Beim Erste-Hilfe-Kurs gab es Verbandsmaterial, jetzt hat er nichts von alledem. Geistesgegenwärtig reißt er sich sein Shirt vom Körper und presst es auf die Wunde. Anschließend bringt Jean das Mädchen in die Seitenlage. Jetzt heißt es nur noch warten. Warten darauf, dass ihm jemand zu Hilfe kommt. Mehr kann er nicht tun. Er betrachtet sie, wie sie dort liegt. So hilflos und kraftlos, trotzdem strahlt sie immer noch etwas aus, das er nicht beschreiben kann. Eine Stärke, die aus ihrem Inneren zu kommen scheint. Wer ist sie wohl? Er weiß gar nichts über dieses Mädchen. Noch nicht einmal ihren Namen. Und doch fühlt er sich stärker zu ihr hingezogen, als zu irgendeinem Menschen zuvor.

Er beginnt über Fragen zu grübeln, die ihn nicht mehr loslassen. Wie ist sie hierher gekommen? Warum ist sie verletzt? Was ist geschehen?

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Autorin / Autor: Lina Rixgens - Stand: 16. Februar 2009