Scherbenkind

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Ich schaue mir die Tür zu seinem Zimmer an. Sie ist schön, zu schön für dieses Haus, in dem die Balken Geschichten von so vielen hässlichen Dingen erzählen und draußen die Käuzchen dazu klagen, bis ein Mensch eintritt. Dann verstummen sie, bis sie wieder allein sind, um ihre Gespräche fortzusetzen. Gespräche über das Haus, über dem die Äste der Bäume sich wie ein Dach erstrecken und das Licht nur spärlich durch ihre Zweige rieseln lassen, wie einzelne Schneeflocken im Winter. Der Regen kommt ab und zu, man hört das Prasseln wie Trommeln wenn man im Haus sitzt, selbst wenn die Fenster geschlossen sind. Ich glaube, früher gab es hier mehr Sonne. Als Kind lag ich auf dem alten Dielenboden und habe beobachtet, wie Staubkörnchen im Licht tanzten. Ich hörte Mutter in der Küche stapeln, spülen und singen. Sie klapperte leise mit den Tellern. Leiser als Vater. Vater klapperte laut und unnachgiebig und sang nie dazu. Emma zerbrach einen Teller, als sie sechs war und ich vier. Sie trocknete den Teller lautlos ab, bis er auf den Boden fiel. Es schepperte laut, als er in Scherben zersprang. Mutter war nicht wütend. Mit dem kleinen Handfeger fegte sie das Porzellan zusammen und erklärte Emma, sie müsse vorsichtiger sein. Emma nickte stumm und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Am Abend kam Vater von seiner Arbeit nach Hause. Es gab Kartoffelsuppe und er fragte, wo denn der sechste Teller sei. Mutter sagte, er wäre ihr zerbrochen. Emma öffnete den Mund, doch Mutter schaute sie scharf an und sie blieb still. Mutter wusste, wusste wozu er fähig war.
Im Bett hörte ich durch die geschlossenen Türen hindurch unterdrückte Schreie und dumpfe Geräusche. Ich kannte die Geräusche, doch nicht die Schreie. Ich war wie gelähmt.
Ich harrte aus und starrte auf den Mond, der sein Licht in mein Zimmer warf. Ich stellte mir vor, dort zu leben, mit Marsmenschen, die lange Antennen auf ihren Köpfen hatten, mit denen sie alles abtasteten was ihnen in den Weg kam. Sie waren freundlich zu mir und nahmen mich bereitwillig bei sich auf, auch, als ich am nächsten Abend wiederkam.

Die Geräusche und Schreie hörte ich nur, wenn der Vater Mutter beim Essen oder danach mit einem Blick ansah, bei dem ich ein Gefühl hatte, mich an Papier geschnitten zu haben.
Mich guckte er das erste Mal so an, als er herausfand, dass ich mich schminkte. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, weil – egal wie ich lag – die Blutergüsse schmerzten. Emma konnte besser damit umgehen. Oder es besser verstecken. Sie schaffte es, unserem Vater in die Augen zu schauen. Ich wich seinem Blick aus, wann immer ich konnte.

Im Sommer zog ich Pullis an, damit niemand bemerkte, dass etwas bei uns anders war.

Ich streiche mit den Fingerspitzen über das sonnengewärmte Holz der Tür. Es fühlt sich irgendwie heimatlich an. Welche Ironie. Diese Tür war mir immer ein Fremdkörper, genau wie Vater. Sie passte zu ihm.
Das dunkelbraune Holz glänzt und die Klinke schimmert silbern, wie frisch geputzt. Dabei ist seit ein paar Wochen niemand hier gewesen. Draußen zwitschern die Vögel und ich frage mich, ob sie jetzt glücklicher sind. Ohne Vater, ohne Bewohner im Haus. Wenn Vater aus dem Haus kam verstummten die Vögel, vielleicht kam es mir aber auch nur so vor. Das letzte Jahr seines Lebens hat er hier allein gelebt.
Es war immer schlimmer geworden und ich versteckte die Narben und die Schrammen nicht mehr.

Am letzten Tag zerbrach er einen Teller in den Händen, einfach so. Er zwang uns barfuß über die Scherben zu laufen, denn er war überzeugt, wir hatten ihn so in den Wahnsinn getrieben, dass der Teller kaputt ging. An dem Tag fragte ich Mutter, warum sie Vater geheiratet hatte. Sie wusste es nicht mehr. Sie ging mit uns. Es stürmte an diesem Tag, der Wind zerrte an meinen Haaren, hin und wieder fielen Regentropfen auf mein Gesicht, dann wurden es mehr und sie zerfraßen meine Haut, mischten sich mit meinen heißen Tränen. Ich weinte um das Haus, um die Türen und Fenster, die wir mit Vater allein ließen. Er versuchte nicht uns zurückzuhalten, als wir im Gleichschritt aus dem Wald zur Landstraße stapften, wo das Auto stand. Mutter hatte es geplant. Die Flucht - wie unheimlich das klang. Vater wusste, er konnte sie nicht halten.
Er muss sie geliebt haben.
Ob er uns geliebt hat, weiß ich nicht. Emma vielleicht.
Ich vermisse ihn nicht. Die Sonne wirft einen breiten Balken aus Licht auf den Boden und ich sehe die Staubkörnchen im Licht tanzen, wie früher. Die Äste wiegen sich draußen in der Brise. Es ist still hier, doch das muss es auch gewesen sein, als er noch hier war.
Der Anruf kam an einem verregneten Montagmorgen. Ich habe nicht geweint. Ich bin in die Küche gegangen und habe uns Spaghetti gekocht. Mein Vater hat mir das Haus vererbt. Ich will es nicht. Ich werde es verkaufen, wenn es überhaupt jemand haben will. Irgendwann. Ich lege die Hand auf die Klinke, sie ist kühl. Mit der anderen Hand zeichne ich die Rillen im Holz nach.
Ich durfte nie Vaters Reich betreten. Ich weiß nicht was mich erwartet, wenn ich gegen die Tür drücke und sie aufschwingt. Ich weiß nicht, ob sie quietscht oder klemmt. Vielleicht fällt sie auch gleich aus den Angeln. Ich weiß so wenig - von der Tür, von Vater. Von der Vergangenheit. Ich nehme meine Hände zurück und drücke sie an meine Brust. Noch nicht.
Aber ich weiß, die Tür ist nur angelehnt.
Es kann warten.

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Autorin / Autor: Annika, 13 Jahre - Stand: 15. Juni 2010