Geheimnisse

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Es roch nach Fisch, als ich über die Dächer von Venedig spazierte. Ich schaute über den Rand und sah die Menschen. Hier sahen sie ganz verschieden aus; sie waren dick oder dünn, rochen nach Schweiß oder nach Parfüm und waren groß oder klein.
Doch für mich waren alle gleich.

Wenn es Nacht wurde waren sie alle gleich dumm, naiv und leichtsinnig, denn sie glaubten alle daran, dass ihnen nichts passieren könnte.
Aber ich wusste es besser.
Ich kannte die dunklen Geheimnisse, die schwarzen Begebenheiten, die nur sichtbar wurden, wenn kein anderer mehr hinschaute.
Wenn ich mich abends durch die offenen Fenster und die angelehnten Balkontüren schlich, wurde mir schlagartig bewusst, was die Menschen für ein grausames Leben hatten.
Ich stieg das Dach hinab und sprang auf die nasse Straße. Der Geruch wurde stärker und stärker, als ich in Richtung des Markusplatzes lief. Heute war Wochenmarkt und der Fischstand war an seinem üblichen Platz. In einem unbeachteten Moment der Verkäuferin stahl ich einen Fisch.
Ich packte ihn mit meinen Zähnen und lief zwei Straßen weiter um ihn dort in der Sonne genüsslich zu fressen. Er schmeckte frisch gebraten und leicht geräuchert. Außerdem hatten ihn viele Menschen angefasst; das spürte ich. Ich stand auf und spielte mit den Gräten. Sie waren verhältnismäßig groß und stabil, doch während des Spielens zerbrach mir eine.
Nachdem ich mich faul auf der Wiese gewälzt hatte, stand ich beim zwölften Schlag der Kirchturmuhr träge auf. Ich wusste, es war so weit.
An der Brücke über den Kanal San Marco wurde mir bewusst, dass es nur noch ein Katzensprung war, bis ich mein Ziel erreicht hatte.
Nach einigen Metern konnte ich das Dach des Hauses erkennen, welches ich mir für diese Nacht ausgesucht hatte. Während ich näher kam wurde der Schein der Straßenlaternen größer. Einige Häuser davor sprang ich auf die Gartenmauer und kletterte über die Regenrinne auf das Dach. Oben auf der Spitze des Dachgiebels angelangt, balancierte ich dem Mond entgegen bis ich die perfekte Gelegenheit sah.
An den Klettergeranien entlang und durch die offene Balkontür kam ich ins Haus. Ich schlich durch das Schlafzimmer und den Flur bis ich die Treppe erreichte. Der Dielenboden knarzte leise unter meinem leichten Gewicht, doch das Geräusch ging in einem lauten Poltern unter. Der Schock saß mir in den Gliedern, dennoch war der Wille mein eigentliches Ziel zu erreichen stärker und ich ging weiter. Anhand der Möblierung erkannte ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Und dann sah ich es. Es stand alleine in der Mitte des Raumes, die Rückenlehne mir zugekehrt. Ich nahm Anlauf und sprang. Ich wusste, ich war da. Es war meins: das grüne Samtsofa.
Zufrieden rollte ich mich zusammen und fing leise an zu schnurren.
Wie dumm die Menschen doch waren. Sie sollten zufrieden sein mit dem, was sie bekommen, doch sie wollen immer mehr und mehr. Ich wusste das. Jeden Abend erfuhr ich etwas anderes. Eine andere Geschichte. Ein anderes Geheimnis; eine andere Lüge.
Doch im Grunde war es alles dasselbe. Es ging um Geld, Liebe, Macht & Ruhm. Um das eine und den anderen, um die verschiedensten Probleme.

Doch mich interessierte das alles nicht. Ich wollte nur meine Ruhe und einen Platz zum Schlafen haben und wenn mir alles zu viel wurde floh ich. Denn sie war immer da.
Eine angelehnte Tür, durch die ich hindurch schlüpfen konnte.

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Autorin / Autor: Sara und Franziska, 16 Jahre - Stand: 15. Juni 2010