Memento mori.

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Die Dunkelheit jener Nacht, die sich durch die Fensterscheiben Eintritt in unser Haus verschafft hatte, umspielte die Konturen und Schatten der Inneneinrichtung mit solcher wunderschönen Perfektion, dass es beinahe gruselig erschien. Jene Nacht war makellos gewesen. Die Sterne schienen heller und zahlreicher zu leuchten als an normalen Abenden, der Wind strich über weiche Geigensaiten, Gräser tanzten mit der Musik.
Doch als ich das Haus betrat, war plötzlich alles anders. Ich jedoch, schlich ahnungslos zum Schlafzimmer meiner Eltern.
Die Tür war nur angelehnt.
Stimmen drangen aus dem Inneren des Raumes; etwas traurig, etwas ängstlich. Ich hielt Inne, kam neugierig näher und bemühte mich zu verstehen.
„Es könnte schon heute passieren.“ Die Stimme meiner Mutter bebte.
„Aber ich will nicht, dass sie Angst hat“, stotterte Papa. Fast glaubte ich, sein Herz laut schlagen zu hören.
Die Atmosphäre jagte mir unsagbare Angst ein. Meine Finger zitterten.
„Aber was willst du ihr sagen, wenn es passiert?“
„Die Wahrheit.“
Wahrheit?
„Aber..Ich..Du..“. Ihre Stimme brach ab. Ihre Stimme brach nie ab. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt.
„Wir müssen ihr doch sagen, dass sie die wenige Zeit, die ihr noch bleibt, nutzen soll“, antwortete Mama Sekunden später.
„Ich will ihr ein Leben bieten, das angstfrei ist und bedenkenlos. Sie ist erst 17. Sie soll leben wie alle anderen und so, als hätte sie eine Zukunft.“
Ich erstarrte. Sah mein Schicksal meine Perspektiven, meine Träume mit Füßen getreten. Drei Kinder wollte ich haben, einen liebevollen, wunderschönen Mann;
In meinem Kopf drehte sich alles.
War wirklich von mir die Rede?
Mein Herz schlug gleich einer Turmuhr, während ich an der Wand entlang zu Boden glitt. Meine Glieder bebten, mein Kopf, schwer wie Blei. Alles drehte sich, zu schnell.
Mein Leben lag in Scherben vor mir, in Trümmern. Das Kartenhaus war zusammengebrochen, es wurde umgestoßen; ein Windstoß; vergebens; Alles.
Mein Herz schlug schneller; noch schneller; man konnte fast fürchten, es würde sich überschlagen; meine Finger vibrierten im Takt. Wie ein trauriges Lied, das mir die Tränen hochsteigen ließ. Diese legten sich wie ein Schleier über meine Augen, liefen wie Wasser einer Strömung über meine Wangen und fielen ab und an von meinem Kinn herab, prallten wie Regentropfen am Boden auf. Jede Träne brannte eine Narbe in mein Herz.
War das alles nur ein banaler Traum? Ein Albtraum? In wenigen Minuten würde ich schweißnass erwachen, in meinem Bett, in der Dunkelheit. Um Gewissheit zu bekommen grub ich meine Fingernägel in meinen Arm, bis ich glaubte das Blut fließen zu hören. Vor Schmerz wollte ich schreien, aber ich biss mir auf die Lippen. Ich war wach. Es schüttelte mich.
Jene Wahrheit, die nicht wahr sein konnte, war wahr geworden.
Mein Kreislauf spielte verrückt. Meine Tränen vermehrten sich, wurden nasser;
Der letzte Atemzug war vielleicht morgen schon getan.
In meinem Kopf drehte sich alles.
Ich starrte die Türklinke an, den Türrahmen, die schwache Lichtlinie, die das Schlafzimmer meiner Eltern offenbarte.
Die Tür wollte es; sie wollte mir, dadurch, dass sie wenige Millimeter vom Türrahmen fortgewichen war, erzählen, was mit mir geschehen sollte; was das Karma mir schenken wollte; den baldigen Tod; Ich wünschte meine Eltern hätten sie in den Rahmen gezwängt, diese verdammte Tür, hätten ihn umgedreht, diesen verdammten Schlüssel; dann hätten mich die Stimmen jener nicht zum Zuhören gezwungen, dann wäre der Kelch der Wahrheit an mir vorbeigegangen; bis zu dem Tag, der mich fortzuschicken plante; bald und für immer. Immer. Was für ein schreckliches Wort.
Alle Tagebucheinträge mit Seiten voller Worten, getränkt in Schmerz und Leid, Tränen, waren nun nur noch Banalitäten und nicht gleichzusetzen mit dem, was ich an jenem Abend aufgeschrieben hätte. Aber wozu jetzt noch ein Tagebuch? Beim Durchblättern jener Seiten, wenn meine Augen hastig den vielen Worten folgen würden, würde mir nur bewusst werden, dass ich vielleicht noch nicht einmal mehr einen Punkt setzen würde, in dieses Büchlein, in diesem Leben. Jener Augenblick wäre vielleicht einer der letzten;
Tausend Zähren gossen meine Kleider als wären sie Blumen, mein Herz raste, meine Seele schrie.
Die Tür war nur angelehnt.
Am liebsten hätte ich ihr Morddrohungen zugeflüstert; sie sollte auch in dem Wissen leben, dass sie sterben sollte, bald; so wie ich von nun an. Sinnlose Tage des Daumendrückens, dass Gott mir noch einen weiteren Tag schenken würde, wenn auch nur einen kurzen, bestehend aus lauter Banalitäten. Bitte; würde ich flehen. Und meinen letzten Tag damit verbringen zu danken.
Die Tür öffnete sich, Licht durchflutete den Flur, in dem ich verharrte; zitternd;
Mein Vater stand vor mir, hob langsam die Hand vor den Mund.
„Was ist es?“ Was würde mir in so naher Zukunft mein Leben nehmen.
„Du bist krank“, seine Stimme bebte. Fast konnte ich ihn nicht verstehen.
Panisch griff ich nach seinem Bademantel, packte ihn; fester, fester.
„Was habe ich“, schrie ich wütend. Woher kam diese plötzliche Wut?
Mein Herz blutete vor Schmerz, meine Seele schrumpfte, bröckelte; es tat so weh.
Plötzlich drehte sich alles.
„Geht es dir gut?“, Papa trat näher, beugte sich über mich. Ich starrte ihn an, mit Panik in den Augen. Was geschah hier?
„Es passiert.“ Papas Stimme zitterte.
„Nein“, schrie ich. Meine Kehle brannte wie Feuer. „Nein, Nein.“
Mit letzter Kraft versuchte ich mich loszureißen, von meinem Vater, der mich in seine Arme gerissen hatte.
Nein. Das durfte nicht sein. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich glaubte zu hören, wie meine Zeit ablief. Eine Eieruhr, die sich dem Ende näherte. Tick. Tick. Tock. Tring.
„Nein“, meine Schreie wurden leiser, schwächer.
Die letzten Tränen glitten wie Murmeln von meinen Wangen, zerronnen, fielen, wie heißes Badewasser vom Wannenrand, in die Tiefe.
Es war vorbei; Alles.
Mein Herz würde aussetzen.
„Mama? Papa?“, presste ich mit letzter Kraft heraus. „Ich..Ihr..“
Dann wurde mir schwarz vor Augen.

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Autorin / Autor: rosenrot, 14 Jahre - Stand: 15. Juni 2010