Glut der Schmerzen stillen Tages

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Eine angelehnte Tür stand nun bedeutungslos im Raum und übte doch eine unweigerlich ernstzunehmende Bedrohung aus. Er hörte die Worte ganz genau, sah wie sie von seinen Lippen geformt wurden, spürte förmlich den zarten Hauch der ausgeatmeten Luft auf seiner Wange: „Bitte lehn die Tür an, wenn du gehst“. Er sah ihn noch ganz genau vor sich, wie er dort im Bett gelegen hatte, das herbstliche Licht ließ seine blasse, wächserne Haut ein klein wenig lebendiger wirken. Seine Augen glasig, die Stimme schwach, er hatte seine Hand gehalten. Jetzt saß er auf dem Boden seines Schlafzimmers, um ihn herum verstreut lagen Fotos und in Händen hielt er eines, das Carl zeigte, damals war er wohl in der elften Klasse gewesen. Seine Sicht verschleierte sich, kurz darauf liefen ihm Tränen die geröteten Wangen herab. „Scheiße, Carl…“

„Ich werde nicht gehen!“ Carl atmete tief ein, es wirkte so mühsam. „Aber du musst, und dass weißt du“, hatte er dann gesagt, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Wir wussten beide, dass es so kommen würde“, sprach er weiter, mit jedem Wort wurde er leiser. So viele Gedanken rasten durch seinen Kopf, so vieles, was er ihm noch sagen wollte, aber nicht konnte, denn es schnürte ihm die Kehle zu, sah er Carl an. Er atmete scharf ein: „Bitte- lehn, die Tür- an, wenn du gehst“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Besorgt schaute er auf, Carls ganzer Körper hatte sich unter Krämpfen angespannt. Es machte ihn wahnsinnig, dass er nichts tun konnte, nichts tun konnte, außer da zu sitzen, an Carls Seite zu sitzen. Seine Hand halten. Bei ihm sein. Er hatte sich wieder entspannt, strich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Ein Schauer durchfuhr ihn, ob dieser Berührung. Carl lächelte, die Augen fast geschlossen. Die Sonne war beinahe untergegangen. Nie hatten sie ihrer Beziehung einen Namen gegeben, nie in Worte gefasst, was sie verband, nie über die Küsse in der Umkleide gesprochen, nie die geheimen Blicke während des Unterrichts erklärt, nie die Grenzen definiert. Wozu auch? Das hätte alles nur verkompliziert. Doch jetzt hatte er das Gefühl, etwas versäumt zu haben. „Ich-“, begann er, doch er wusste nicht, was er sagen wollte, wie er seinen Gefühlen Worte geben sollte. Carl sah ihn an, lächelte ihn an. „Ja… ich auch“, hauchte Carl. Dann beugte er sich vor, kurz bevor sich ihre Lippen berührten, hielt er inne, schaute Carl in die Augen, wie um sicher zu gehen, dass es okay war- und küsste ihn. Carl erwiderte den Kuss, er spürte eine Hand in seinem Nacken. Ein letzter Sonnenstrahl drang durch den Vorhang zu ihnen.

„Scheiße Carl, warum hast du mir das angetan?“ Er kniete auf dem Boden, lehnte an der Bettkante, vergrub sein Gesicht in den Ärmeln seines Sweaters. Ein Schuss durchbrach die Stille des vorstädtischen Nachmittags.
Frances ging am Zimmer ihres großen Bruders vorbei. Durch die angelehnte Tür konnte sie die Fotos sehen, die in Blut schwammen.

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Autorin / Autor: Selina, 16 Jahre - Stand: 15. Juni 2010