Der Schatten des Raben

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Manchmal, wenn eine zeitlose, erdrückende Stille im Raum herrscht,
passiert es, dass jemand die Grenze zwischen Realität und Fantasie
verwischt. Wenn man dann noch durch das Fenster nach draußen in
den grauen Herbstwald schaut, merkt man, dass man nicht dorthin
gehört. Nicht nach draußen. Nur in dieses eine Zimmer, das vielleicht
gar nicht wirklich existiert.

„I´m not there.“ hatte James in die dicke Staubschicht, die das gesamte
Fenster überzog, geschrieben. Er wischte den Finger an den
dunkelgrünen Gardinen ab, die er zur Seite gebunden hatte, weil sie ihn
sonst nervten. Sie waren schmutzig. Er hatte keine Lust sie zu
waschen, es wäre reine Zeitverschwendung. Als er durch das kleine
runde Stückchen Fensterglas spähte, das er jeden Morgen sorgfältig
mit einer Serviette vom Staub befreite, sah er zum ersten Mal den
schwarzen Vogel. Er saß auf der hohen, kahlen Eiche vor seinem
Fenster und blickte ihn an. Nur ihn. Dabei war er umgeben von
tausenden von blätterlosen Bäumen, die ihre dürren Äste in den grauen
Himmel streckten.

Nervös fuhr sich James durch das verfilzte, braune Haar. „Edgar Allen
Poe!“, dachte er und musste grinsen. Er winkte dem Raben zu. Der
Rabe blinzelte. James klopfte gegen das Glas. Lauter. Der Rabe legte
den Kopf schräg. „Er bleibt sitzen“, dachte James, während er auf
seiner Unterlippe kaute, „er bleibt tatsächlich sitzen, der freche Kerl.“
Man merkt es nicht, wenn die Grenze verwischt wird. Es ist wie ein
Übergang. Es ist die reale Welt. Aber wenn man alleine in einem alten
Haus mitten im Wald von Maine lebt, hat es vielleicht nie eine solche
Grenze gegeben.

Das zweite Mal saß der Rabe auf der steinernen Fensterbank. Er putzte
sein glänzendes Gefieder und James wagte nicht, sich zu bewegen. Er
konnte seinen Herzschlag spüren und dachte, der Vogel müsste es
hören. James hob die Hand und schrieb etwas in die Staubschicht auf
dem Glas. „Hallo.“ Darauf würde der Rabe bestimmt antworten. James
war sich sicher, dass der Rabe lesen konnte. Der schwarze Vogel
krächzte heiser.
„Gut“, dachte James und schrieb: „Lass mich in Ruhe.“ Der Rabe
fixierte ihn mit seinen tiefschwarzen, glitzernden Augen. „Nein“,
krächzte er. James hatte ihn in seinem Kopf gehört. „Ich kann
Gedanken lesen“, dachte er freudig, „ich bin etwas Besonderes.“ Mit
der rechten Hand zwirbelte er aufgeregt eine Strähne seines Haares zu
einem weiteren kleinen Knoten. Er verspürte nicht das Bedürfnis, sich
zu kämmen. Eine andere Art der Zeitverschwendung.
Nehmen wir an, die Grenze ist schon lange verwischt. Von wem auch
immer. Irgendwann fühlt man sich alleine und dann bekommt man
Besuch von jemandem, den man noch nie gesehen hat, aber der einem
doch irgendwie vertraut ist.

„Ich kenne dich“, sagte der Rabe leise. Er blinzelte. James antwortete
ihm nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Also starrte er zurück und
kaute auf seiner Unterlippe. Manchmal war es ihm schon passiert, dass
sie angefangen hatte zu bluten. „Lass mich doch rein!“, krächzte der
schwarze Vogel. Plötzlich fiel James auf, dass er keinen Schatten hatte.
„Vögel sind keine Vampire!“, dachte James nervös und prüfte den
Riegel am Fenster.

Andere Leute behaupten, man sei verrückt oder komisch. Psychiater
haben Begriffe dafür gefunden, die sie wahrscheinlich noch nicht einmal
selbst verstehen. Vielleicht war James verrückt. Aber wahrscheinlicher
ist es, dass er die Dinge sehen konnte, die zwischen Fantasie und
Realität existieren.
Eines Tages saß nur noch der Schatten des Raben auf dem
Fensterbrett. Der echte Rabe aber war in James Kopf geflogen, von wo
aus er zu ihm sprach. Und James freute sich, endlich einen Freund
gefunden zu haben.

Irgendwann wird es ihm vielleicht unheimlich werden, denn ein Vogel
hinterlässt niemals nur seinen Schatten. Und wenn die zeitlose Stille im
Zimmer immer schwerer wird, und er versuchen wird, die richtige Tür
wieder zu öffnen, wird es zu spät sein.

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Autorin / Autor: Lisa, 16 Jahre - Stand: 14. Juni 2010