Die wunderbare Welt des Ichs

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

In den letzten Minuten meines Lebens zogen die grauen Wolken über den türkisen Wasserspiegel der gefürchteten Lagune. Groß und majestätisch bildeten sie wüste Formen einer anderen Vorstellung und verloren sich wieder. Windböen fegten über die karge Landschaft, hinterließen gigantische Wellen und eine willkommene Abwechslung. Sommer waren heiß gewesen und zogen sich ineinander über, als wäre die Kälte eine andere Dimension. Sie lauerte nur wenige Unwetter weiter in fernen Ländern einer anderen Zeit. Doch diese waren nicht vor meinem Fenster.

Jene Felslandschaft mit ihren erstickenden Sommernächten war ein Teil meines höllenhaften Zuhauses und dadurch unbeabsichtigter Teil meines armseligen Lebens ohne jede Form der Zukunft. Ich war von meinen Eltern in die Welt gesetzt worden und in dieser Ödnis hatten sie mich hinterlassen. Das mickrige Dorf von gerade Mal 800 Einwohnern bot keine Art von Perspektive für mich oder irgendeine andere Form von seelenbeschenkten Lebewesen.

Der Lichtblick meines erbärmlichen Lebens war die Liebe der Sommer gewesen, die mir eine vergebliche Hoffnung auf einen ersehnten Wechsel der Gegebenheiten veranschaulicht hatte. Diese bittere Leidenschaft war ein armer Zwerg von gerade mal 16 Jahren aus der biederen Nachbarschaft gewesen, der sich um meine scheinbar unerreichbare Gunst dennoch bemüht hatte. Ein tiefes Verlangen nach Anerkennung und die zerstörende Sehnsucht nach Neuem. Jedoch nach einigen Wochen war der Unterschied zwischen uns zu massiv geworden und der Streit hatte eine erwünschte Welt der unberechenbaren Gefühle dahinwehen lassen wie der plötzliche Wind, der die Realität am heutigen Morgen verwischte.
Doch das unbeabsichtigte Ergebnis war das vorhersehbare Zurückkehren zum trägen Alltäglichen gewesen, das seit jenem verhängnisvollen Tag vor vielen nutzlosen Jahren kein Licht bringendes Ende genommen hatte. Das verzweifelte Begehren nach allem Berechenbaren war verflogen und die bloße Angst nach der glasklaren Realität hatte stetig Einzug in mein leidvolles Leben genommen. Langsam und schleichend, sodass ich es erst bemerkte, als ich mich schon hemmungslos den traumhaften Illusionen der fantastischen Welt hingegeben hatte.
Bis zum heutigen sonnengetränkten Tag weiß ich nicht, ob jenes stumme Klopfen an der angelehnten Eisentür mein bisheriges Dahintreiben beendet hat oder doch eines der anderen kalten Ereignisse.
Die wispernden Schläge wurden von einem abrupten Aufreißen der starren Tür meinerseits zum Schweigen gebracht. Hinter dem Quietschen kam eine neue Art der Erfahrung nach dem alltagsbezogenen Herunterdrücken einer antiken Klinke und dem kraftraubendem Aufschieben des Hindernisses zwischen mir und der anderen Seite der steinernen Wand. Erstaunlicher Weise verbarg sich dort kein erhoffter Messias, kein Prinz Charming aus dem Märchenland, kein außerirdischer Idiot, ja  noch nicht einmal der liebe Gott Vater persönlich, nur die erschreckende Fassade des nächsten Hauses.

Zu dieser ließ ich nun meine Fußsohlen schreiten und eröffnete meinen Augen eine Welt der grandiosen Holzbalken. Nach jenem todesmutigen Überwinden der unbegreifbaren Situation marschierte der hoch besungene Übermut selbstbewusster denn je in mein Gewissen und hinterließ mich bei gegenwärtiger Sturmflut mit der bizarren Vorstellung an die flachen Klippen zu schlendern und die europäischen Seerosen und karibischen Korallen des Toten Meeres zu pflegen. Mein Wille trieb mich an den brennenden Blumenwiesen und den weinenden Bäumen vorbei zum blutenden See. Der Mast des Dorfbootes, ein imposantes Werk bewundernswerter Floßkunst eines zurückgebliebenen Kleinkindes, hatte sich zur Seite gebeugt und lugte verlegen hinter der zierlichen Granitwand hervor. Ich besonn mich auf die Versuchung des baldigen Südseefeelings verbunden mit den salzüberlasteten  Wasserquellen der verschmutzen Gewässer der schneebedeckten Alpen. Zuversichtlich schritt ich auf den verschwommenen Rand der Klippen zu, um meinem geordneten Traum endlich Gelingen zu verschaffen. Mit dem Ziel vor Augen die zarten Rosen ins Haar zu stecken und den Rifffischen beim Schwimmen zuzusehen, klarte der gezerrte Horizont apokalyptisch auf und legte mich in die Arme der Geborgenheit meiner Welt. Diese hob mich behutsam auf und setze mich in die watteweichen Kissen des atmenden Windes, der mich behutsam über das tosende Wasser hielt, mit dem verborgenen Wunsch mich ebenso schnell wieder freizugeben.

Mit geschlossenen Augen und einem seligen Lächeln auf den Lippen schwebte ich den brausenden Wellen entgegen und wurde von ihnen mit einem liebevollen Zischgeräusch aufgenommen und in die schwarzen Tiefen gezogen.
Mich umgibt die Stille der Unendlichkeit und ich verliere mich in der unbegreifbaren Schönheit einer eintönigen Farbe ohne jegliche Färbung. Teil eines allgegenwärtigen Schreckens werde nun auch ich sein, für jetzt und in alle Ewigkeit, doch die Sünde nicht mehr ein minderwertiger Teil jener Furcht zu sein bleibt bestehen, denn egoistisch denke ich selbst jetzt noch und bemerke einen blauen Delfin mit einem rosa getönten  Blütenblatt in der geschlossenen Schnauze an meiner Seite.

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Autorin / Autor: Lena-Luise, 15 Jahre - Stand: 14. Juni 2010