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Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Ich öffnete den Kleiderschrank und wollte gerade meine Lieblingsjeans herausholen, als ich sie sah: An der Rückwand meines Kleiderschranks war eine Tür. Es war eine reichlich mit Mustern und Ornamenten verzierte Holztür und ich hatte sie noch nie zuvor gesehen! Nun stand ich ratlos vor ihr und fragte mich, wie um Alles in der Welt diese komische Tür in meinen Kleiderschrank in meinem Zimmer des Internats Burg Greifenfels kam. Das Internat war nicht sehr bekannt, und hatte deshalb auch nur sehr wenige Schüler Aber nun genug zu der Schule. Ich besah mir die seltsame Tür genauer und bemerkte, dass sie nur angelehnt war. Ich war schon fast dabei sie ganz zu öffnen, als hinter mir ein verschlafenes  „Guten Morgen!“ zu hören war. Natürlich hatte ich meine Freundin Lea, mit der ich mir das Zimmer teilte, ganz vergessen. Nun schaute sie mir über die Schulter und fragte: „Weißt du nicht, was du anziehen sollst? Ich kann dir gerne ein paar Tipps geben!“ Ich hatte erwartet, dass sie mich nach der Tür fragen würde, doch die schien sie gar nicht zu bemerken. Sie plauderte munter weiter über Kleidung, doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu. In meinem Kopf wirbelten unglaublich viele Fragen durcheinander. Wieso konnte ich die Tür sehen und Lea nicht? Was war wohl dahinter? Etwas Gefährliches? Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich erst aufmerksam wurde, als Lea mich anstieß und sagte: „Du solltest dich langsam einmal fertig machen, sonnst kommst du zu spät zum Unterricht!“ Ich zog mich an, so schnell ich konnte und blieb dann unschlüssig im Zimmer stehen. Meine Freundin wurde langsam ungeduldig: „Was ist denn jetzt schon wieder los“, fragte sie leicht genervt. „Ich hab´ die Verbesserung für die Physikarbeit verlegt, und die müssen wir doch heute abgeben! Geh du schon mal los, ich komme gleich nach“, erklärte ich. Eigentlich wollte ich nur allein sein, um endlich die verdammte Tür zu öffnen. Lea flitzte zur Zimmertür hinaus, und ich seufzte erleichtert. Dann ging ich langsam auf den Schrank zu und öffnete langsam die geheimnisvolle Tür. Was dahinter war, verschlug mir den Atem. Vor mir stand mein Vater. „Das kann nicht wahr sein“, dachte ich, „Papa ist im Winter bei einem Autounfall gestorben! Er kann doch nicht einfach wieder da sein!“ Nach dem Erstaunen und der Ungläubigkeit, kam die Freude. Ich wollte meinen Vater umarmen, doch das ging nicht. Ich lief einfach durch ihn hindurch. Es war, als würde mir ein warmer Wind entgegenwehen, und schon stand ich hinter ihm. Er drehte sich um und sagte grinsend: „Immer langsam, bloß nichts überstürzen. Soll ich dir nicht erst einmal erklären, wo du überhaupt bist?“ Ich nickte. „Also“, fuhr er fort, „du befindest dich hier in einer Art Parallelwelt zu deiner Welt. In deiner Welt leben alle noch lebenden Menschen und Tiere, in dieser Welt leben alle bereits gestorbenen Menschen und Tiere. Wir sind Geister, und normalerweise kann uns niemand sehen, aber es gibt Übergänge zwischen den Welten, und Menschen, die sie benutzen können, so wie du.“ Ich war neugierig geworden: „Aber woher wusstest du, dass ich das kann?“ „Alle aus meiner Familie konnten es, ich auch. Hast du dich nicht immer gefragt, wieso ich immer so oft im Keller war? Dort ist auch ein Übergang“, erklärte er. „Aber ich habe die Tür heute erst entdeckt! Sie muss doch die ganze Zeit da gewesen sein. Ich hätte sie doch früher auch sehen müssen“, fragte ich weiter. Mein Vater sah mir tief in die Augen, und seine Stimme nahm einen fast feierlichen Ton an: „Man kann die Übergänge erst dann sehen, wenn man selbst dazu bereit ist.“ Ich verstand seine Worte nicht ganz, doch das war mir im Moment ziemlich egal. Ich war einfach nur froh, bei ihm zu sein. „Komm“, rief er fröhlich, „ich führe dich ein bisschen rum!“ Wir machten also einen kleinen Spaziergang und trafen dabei eine Menge anderer Geister. Mein Vater grüßte nach allen Seiten. Er schien hier viele Leute zu kennen, unter anderem Friedrich Schiller und Albert Einstein. Dieser bot mir sogar an, mir bei den Vorbereitungen für die nächste Physikarbeit zu helfen. Beim Stichwort Physik fiel mir ein, dass ich jetzt eigentlich Unterricht hatte. Ich wollte schon Hals über Kopf zurück zur Übergangstür laufen, doch mein Vater erklärte mir, dass ich tagelang hier bleiben könnte, ohne dass auf der anderen Seite auch nur eine Sekunde Zeit verging. Ich war erleichtert und wir schlenderten gemütlich zum Übergang. Dort angekommen, verabschiedete wir uns voneinander, und ich versprach meinem Vater, heute Abend noch einmal vorbeischauen würde. Das tat ich von nun an auch jeden Tag. Niemand bemerkte diese kleinen Ausflüge. Nur Lea wunderte sich darüber, dass ich am Morgen vor der nächsten Physikarbeit ziemlich herumtrödelte und immer etwas länger allein im Zimmer sein wollte. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ich bei Albert Einstein höchstpersönlich Nachhilfe nahm.

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Autorin / Autor: Clara, (fast) 12 Jahre - Stand: 14. Juni 2010