Muschelblau

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

~h2~Ich strecke meine Hand aus. Berühre die warme Haut einer Wange. Dann gleiten meine Finger weiter und plötzlich verschließt sich etwas.
In Ihm.~

Er war so anders als alle Jungen, die ich bis jetzt berührt hatte.
Eigentlich hätte ich ihn seit Jahren kennen können und doch habe ich keinerlei Erinnerung an ihn. Dann war er auf einmal da und in dem einen Moment drehte sich meine ganze Welt.

Ich weiß nicht genau, was damals passierte, und werde es vielleicht nie wissen, aber ich hatte in der Nacht darauf einen Traum – einen Traum von solcher Klarheit, dass ich ihn bis heute vor meinen Augen sehe.
Ich stehe in einem dunklen Treppenhaus. Die Treppen sind breit und Teppiche sind über die Stufen gelegt. Dunkle Holzvertäfelungen an den Wänden werden von alten Bildern halb verdeckt. Über mir werfen Kerzen ihre Muster auf den Boden, so dass es aussieht, als ob ich einem Meer aus Licht stehen würde. Doch dann legt sich ein Schatten auf mich, und ein Zittern läuft über meinen Körper. Alles scheint sich zu drehen, ich suche Halt an der Wand. Dann ist es wieder vorbei.
Es ist das Holz einer Tür. Sie ist eisenbeschlagen und so anders, als alle Türen, die ich bis jetzt gesehen habe.
Sie ist angelehnt.
Ich bin schon weit hinauf gestiegen.
Alleine.
Plötzlich überfällt mich ein starkes Verlangen die Tür zu öffnen. Jetzt. Sofort.
Ich will wissen, was dahinter steckt. Ich will hinein. Jetzt. Sofort.
Ich strecke die Hand aus und streiche mit den Fingern über die warme Oberfläche des Holzes. Dann gleiten meine Finger weiter, zur Türklinke, und plötzlich verschließt sich die Tür. Ich spüre es. Und je fester ich an ihr zerre, desto fester schließt sie sich.

Ich gehe weiter.
Alleine.

Dreimal habe ich den Traum geträumt.

Am Tag darauf fuhr ich zu meiner Großmutter, deren kleines blaues Haus nicht weit vom Meer lag. Sie war eine kluge Frau und ich brannte darauf, ihr eine Frage zu stellen.
Die Tage vergingen und eines Abends fragte sie, ob wir einen Spaziergang zum Strand machen wollten, als ob sie meine Frage schon in meinen Augen brennen sehen würde, und als ob sie wusste, dass der kühle Sand helfen würde, sie zu löschen.

Das warme Licht der untergehenden Sonne legt sich über den Strand. Das Wasser sieht aus, als hätte man orange Farbe hineingeschüttet und hoch über uns, knapp unter den rosa leuchtenden Wolken, fliegen Möwen in den blauen Himmel. Wir gehen am Strand entlang und meine Großmutter sammelt Muscheln. Ihre Schalen glänzen im Sonnenlicht, jede in einer anderen Farbe. Gelb, rosa und blau –  ja, blau gefällt mir am besten.
Ich gehe stumm neben ihr her. Die Frage liegt auf meiner Zunge, schon seit Tagen überdacht und formuliert, doch ich habe Angst, sie auszusprechen. Nein, ich habe Angst, die Antwort zu hören.
Und ich habe Angst, weil ich die Antwort schon spüre.

„Weshalb schließen sich Türen?“
Sie blickte auf, und sah mich scharf an. Ich sah, dass sie sofort verstanden hatte. Nachdenklich blickte sie auf die Muscheln und strich über die Schalen. Einige waren geöffnet, andere waren geschlossen.
„Komm.“ sagte sie.

Wie gingen zu einem Gezeitentümpel, dessen klares Wasser in der Sonne schimmerte. Ich konnte das Salz riechen. Sie setzte sich in den Sand, anmutiger als ich es je vermocht hatte, und ließ die Muscheln ins Wasser gleiten.

„Nimm die rosa Muschel aus dem Wasser. Öffne sie!“ bat sie mich.
Ich tat, wie mir geheißen, und schob meine Fingernägel zwischen ihre Schalen. Sie klappte ohne Wiederstand auf. Doch sie war leer.
„Und jetzt nimm die blaue Muschel.“
Ich nahm sie in die Hand, und spürte die Schwere in ihr. Als ich versuchte meine Fingernägel zwischen ihre Schalen zu schieben verschloss sie sich so fest, dass ich sie nicht auseinander drücken konnte. Sie lebte.
„Und nun sieh zu!“
Sie nahm mir die Muschel sanft aus der Hand, und legte sie auf ihre eigene. Dann tauchte sie sie in das Wasser. Leichter Wind kam auf, er kräuselte das Wasser, doch sie hielt ihre Hand still.

Nach einer Weile war zwischen den Schalen ein kleiner Spalt und ich konnte das rote Muschelfleisch sehen.

Ich habe den Traum nie wieder geträumt.

~h2~Ich strecke die Hand aus, warte. Auf einmal fühle ich seine Finger auf meinen. Spüre, wie sich seine Hand um meine schließt.~

Und langsam, ganz langsam öffnet sich eine angelehnte Tür.

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Autorin / Autor: kalypso, 17 Jahre - Stand: 14. Juni 2010