Wenn die Sonne nicht mehr lacht

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Sie rennt durch den Wald. Die Tränen fliessen ungehindert. Dornen zerkratzen ihre Beine und Äste schlagen ihr ins Gesicht. Blut vermischt sich mit Tränen und Schweiss. Es ist ihr egal. In ihrem Kopf ist alles durcheinander. Blitzschnell schiessen Gedanken und Ideen durch ihr Gedächtnis. Was konnte sie, die sonst so unerschütterliche Petra, in eine solche Lage bringen? Die Schatten werden länger und schliesslich wird es Nacht.
Plötzlich stolpert sie über eine Wurzel und fällt der Länge nach hin. Sofort springt sie wieder auf. Da durchzuckt ein stechender Schmerz ihr Bein. Erneut gleitet sie zu Boden. Hilflos lehnt sie sich an den nächsten Baum. Ihr ist, als könnte sie jederzeit ein wildes Tier mit funkelnden Augen aus dem Dickicht anspringen. Nochmals läuft der Tag wie ein Film an ihr vorbei.

Es sollte ein Abenteuer werden. Ihre fünf Kolleginnen wollten auf dem Hügel oberhalb des Dorfes ihre Zelte aufschlagen. Vor ein paar Tagen hatten sie gewettet, dass sie allein in dem Schloss übernachten würde. Es stand ganz in der Nähe und die junge Besitzerin war vor ein paar Jahren in die Stadt gezogen. So ging sie nun in Begleitung von ihren Gefährtinnen bis zum grossen Eisentor. Es war ihr jetzt zwar nicht mehr ganz wohl bei der Sache, aber dennoch zwängte sie sich zwischen den rostigen Gitterstäben hindurch. Geduckt schlich sie sich von Busch zu Busch. Über eine Treppe gelangte sie zur imposanten Eingangstüre. Ein Blick zu ihren Kolleginnen und dann betrat sie das fremde Haus.
Die schwere Türe fiel hinter ihr ins Schloss. Vor ihr erhob sich eine massive Marmortreppe in den ersten Stock. Links und rechts von ihr befanden sich noch zwei Türen, welche wohl die Räume im Erdgeschoss erschlossen. Von den Dachfenstern beschienen ein paar Lichtstrahlen Staub und Spinnweben. Einige Kisten stapelten sich den Wänden entlang. Zwei Ritterrüstungen und allerlei Kriegstrophäen zeugten von dem ehemaligen Glanz. Petra entschied sich für die rechte Türe und bahnte sich langsam den Weg dorthin. Behutsam betätigte sie die Türklinke. Sie stand in einem langen, düstern Korridor.
Plötzlich hörte sie eine Frauenstimme. Zeitgleich entdeckte sie eine angelehnte Türe, woraus ein wenig Licht drang. Sie erschrak und wollte sofort wegrennen. Aber halt! War da eben nicht noch eine andere, ihr wohl bekannte Stimme. Vom Neugier gestochen schlich sie dem Gang entlang, das Auge immer auf den schmalen Spalt gerichtet. Die Stimmen wurden deutlicher. Petra hörte die unbekannte Frauenstimme fragen:“Hast du es ihr schon gesagt?“ „Was?“, entgegnete die andere Stimme, welche sie ihrem Vater zuschrieb. Nun stand sie neben der Tür und lugte hinein. Es war tatsächlich ihr Vater. Er lag auf einem weissen Himmelbett. Mit einer leichten, zart blauen Seidendecke zugedeckt. Da entdeckte sie in der anderen Ecke auch die Frau. Sie war damit beschäftigt sich fertig anzukleiden und sprach weiter: “Na ja, dass du dich scheiden willst.“ Petra war den Tränen nahe. Da hörte sie ihren Vater antworten: “Ich werde es ihr heute Abend sagen. Ich werde wohl danach hier übernachten. Die kleine Göre ist mit ihren Freundinnen unterwegs. Petra wird es früh genug von ihrer Mutter erfahren. Dann hat die alte Heulsuse wieder jemand der ihr zuhört, wenn sie über ihre Unfruchtbarkeit labbert. Ich will aber noch Kinder haben und da dieser Nichtsnutz mir das mit seiner Geburt versaut hat, ist es nichts als recht, dass ich mich scheiden lasse. Du kannst mir sowieso viel mehr bieten.“
Diese Worte trafen Petra mitten ins Herz. Die Tränen rollten über ihre Wangen. Sie sollte an allem schuld sein? Mutter könnte wegen ihr keine Kinder mehr bekommen? Sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass das so war! Und jetzt das. So leise wie möglich entfernte sie sich. Unter Tränen bewegte sie sich durch die Räume, durch die sie gekommen war. Draussen ging es schon dem Abend entgegen. Von ihren Kolleginnen war zum Glück nichts mehr zu sehen. So schnell es ging stolperte sie über den Schosspark und überwand erneut das Tor. Ohne Ziel hetzte sie in den Wald. Nur möglichst schnell von diesem schrecklichen Ort weg. Sie ließ ihren Beinen freien Lauf. Bald hatte sie die Orientierung verloren. Es störte sie nicht. Ihre Gedanken waren wirr durcheinander. Alles schien sich im Kreis zu drehen.

Schweissgebadet schreckt sie hoch. Sie hat lange geschlafen. Die Sonne steht schon hoch am Horizont und wärmt ihre vom Schweiss und Tau feuchten Kleider.
Sie ist auf einer Anhöhe und vor ihr präsentiert sich die Welt von ihrer schönsten Seite. Unter ihr im Tal schlängelt sich ein Fluss durch die kaum bewohnte Gegend und mündet schliesslich in einen tiefblauen See, umgeben vom zarten Grün des Waldes. Im Hintergrund münden die noch schneebedeckten Gebirgsketten in den wolkenlosen Himmel. Überwältigt von dem Anblick, staunt sie über die Vielfalt der Natur.
Langsam richtet sie sich auf. Der Schmerz in ihrem Bein ist abgeklungen. Jetzt am Morgen sieht auch ihre Situation ganz anders aus.
Der Hass gegen ihren Vater hat nachgelassen und ihre Rachepläne sind in Luft aufgelöst. Obwohl sie weiss, dass er nicht richtig handelt, kann sie ihm einfach vergeben.
Plötzlich muss sie an ihre Mutter denken. Hat sie es schon erfahren? Sie muss am Boden zerstört sein nach diesem zweiten, schweren Schicksalsschlag. Sie nimmt sich vor, ihr in allem Leid beizustehen und sie zu trösten. Es ist ihr klar, dass es eine sehr schwere Zeit werden würde. Aber zusammen werden sie es schaffen.
Zielstrebig macht sie sich auf den Weg nach Hause. Noch leicht humpelnd folgt sie den unübersehbaren Spuren von gestern. Noch einmal bleibt sie kurz stehen und blickt zurück auf den See, der so ruhig daliegt. Diese Tage wird sie nie mehr vergessen.

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Autorin / Autor: Martina, 16 Jahre - Stand: 11. Juni 2010