Am Ende des Seins

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

„Es war ein lauwarmer Samstagnachmittag. Die Sonne stand senkrecht am Horizont und ließ ihre Strahlen sanft auf meiner Haut kitzeln. Aus dem Rosengarten drang ein betörender Duft und war schon in Kindheitstagen ein magischer Anziehungsort, von dem ich meine Augen kaum abwenden konnte. Die Farbenpracht war enorm, wie magnetisiert tanzte ich auf ihn zu, kniete mich nieder und ließ meine Hand zärtlich über eine tiefrotschimmernde Blüte gleiten und atmete tief ihren wohligen Duft ein.

Langsam stand ich wieder auf und weidete meine Augen an dem Meer aus Rosen. Gedankenverloren ging ich an Sträuchern vorbei, ließ meine Hände niederfahren. Dornen schnitten sich in meine weichen Hände, zurück blieb ein Tropfen roten Blutes. Die Gräser wurden dichter, höher, ungebändigter, während meine nackten Füße den Berg hoch zur alten Weide liefen. Ich ließ den Garten hinter mir, den Fokus auf den einst so geliebten Baum gerichtet, als ein Windstoß durch die langen, peitschenartigen Äste stieß und mich vor Anmut zum Stehen verleitete. Mechanisch hob ich die Arme und stieß einen Freudenschrei aus, drehte mich um die eigene Achse und ließ meinen Blick hinab auf den Rosengarten gleiten. Doch meine Gedanken waren nicht der umwerfenden Landschaft gewidmet, vielmehr galten sie dem Weidenbaum, der allein auf der Anhöhe stand und sich unschuldig im Takte des Windes wiegte.

Besessen setzte ich Schritt für Schritt nach hinten an und wand mich mit voller Wucht, wie im plötzlichen Schwertkampf, um, meine Augen glühten vor Verlangen. Respektvoll schaute ich den mächtigen Baum an, senkte das Haupt und schritt langsam voran. Ein Ast durchfuhr mein Haar und ließ mich für einen Augenblick aufschrecken, doch dann schloss ich wieder die Augen, bis ich den mächtigen Stamm unter meiner Handfläche spürte. Ruhig tastete ich mich daran in Richtung Boden, fühlte jede einzelne Unreinheit und erweckte in mir die Sehnsucht. Magie floss vom Stamm in meine Hände, benebelte all meine Sinne, ließ mich aufschluchzen. Bilder vergangener Zeiten entflammten und wollten sich vor meinem geistigen Auge erneut abspielen…

„Marie? Ihr seid wieder da. Welch angenehme Überraschung!“ Eine Person mittleren Alters schreckte mich aus meiner Gedankenwelt auf. Der Stimme nach zu urteilen, musste es sich um eine Frau handeln, doch ihr faltiges Gesicht ließ mich stutzen. Sie trug eine abgetragene, verdreckte Hose mit Trägern, die stramm an ihrer karierten Bluse hefteten. Mit der einen Hand zog sie ihren braunen Strohhut zurecht, der darauf schließen ließ, dass sie Gärtnerin war. „Lady Marie. Wie lange ist es her?“, fragte sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht, ihre braunen Augen strahlten eine behagliche Wärme aus.

Mein verdutztes Gesicht musste ihr gesagt haben, dass ich keinerlei Erinnerung an sie selbst parat hatte, denn sie setzte einen entschuldigenden Blick auf. „Verzeiht, Lady Marie, ich bin es, Dorothea Fraser. Sie sind zu einer wunderschönen Frau herangewachsen, wenn ich das erwähnen darf.“

Als ich sie erkannte, lief ich fort. Zu viele Erinnerungen holten mich ein. Meine Füße wurden schneller, ich rannte einen grasbewachsenen Weg entlang in Richtung des alten Gartenhäuschens, in dem ich als Kind so viele Tage gesessen hatte, bis ES geschah.

Bittere Tränen ließen die Umgebung verschwimmen, ein Stein ließ einen stechenden Schmerz hervorrufen und ich verlor jeglichen Halt, fiel nieder in das weiche Gras, welches unter meinem Gewicht zur Seite wich. Zornesröte stieg mir ins Gesicht, die Hände zur Faust geballt schlug sie auf den Boden ein. Es konnte doch nicht sein…

Als ich mich aufgerappelt hatte und meinen Weg zum Gartenhäuschen fortsetzte, vergewisserte ich mich, dass mir Dorothea nicht folgte. Einen Moment blieb ich stehen und sog die Luft tief ein, dann betrat ich das kleine Waldstück, seit damals, als es geschah, hatte sich nichts verändert.

Eine angenehme Kühle empfing mich, als ich meinen Weg fortsetzte, Vögel zwitscherten droben in den Baumkronen und kreuzten teils meinen Weg. Blätter und Äste stachen gelegentlich unter den Fußsohlen, doch das störte mich längst nicht mehr. Die Ruhe, das Rauschen und die Einsamkeit ließen mein Herz wieder in Einklang schlagen.

Nach einiger Zeit sah ich in der Ferne das Gartenhäuschen, es sah marode und heruntergekommen aus, aber wenn ich mich recht erinnerte, war das damals auch der Fall gewesen. Damals. Manchmal sehnte ich mich an den Tag zurück, als ES geschah, es war eine wundervolle Zeit, der Tag. Oh ja, er war wunderschön, bis ES passierte.

Ich schüttelte die Erinnerung ab und lief die letzten Meter, ein Hase schlug neben mir einen Haken, bis er wieder im Gebüsch verschwunden war. Am Zaun angekommen, legte ich meine Finger auf das Tor und strich über die weiße, abblätternde Farbe. Wie lange war es doch nur her.

Quietschend drückte ich die Tür auf, die Scharniere waren eingerostet und ich traf auf Widerstand. Mit Schwung stemmte ich mich dagegen und bewegte mich langsam durch das Tor, wilde Blumen wuchsen über das ganze Grundstück  verstreut und setzten mich in Kenntnis, dass es eine Ewigkeit her sein musste, als man das Gartenhäuschen betreten hatte. Unbeholfen bahnte ich mir den Weg durch das hohe, von Blumen und Brennnesseln geprägte Gras und betrat vorsichtig die kleine weiße Treppe zum Häuschen.

Die Bretter gaben nach und knarrten bedrohlich, doch ich wagte es, die drei Stufen zu nehmen und blickte das kleine Vordach an, wo noch der Blumentopf hing, den mein Großvater und ich damals mit Veilchen bepflanzt hatten. Eine Weile betrachtete ich ihn schweigend, bis etwas anderes mir in die Augen stieß und meinen Blick fesselte. Da stand sie, die alte weiße Bank, mittlerweile sah sie verwittert aus und einige Leisten fehlten, doch ich erkannte noch das altvertraute Rosenmuster an der Lehne. Auf meinen Wunsch hatte Großvater es hinein geritzt, er hatte mir über den Kopf gestreichelt und einen Kuss auf die Stirn gegeben. „Danke, Großvater!“, waren meine Worte gewesen.

Plötzlich kam es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich schlang die Arme um mich. Dann betrat ich das Gartenhäuschen. Die schwere Holztür gab nach einem kleinen Ruck nach und schwang auf. Ein unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase und Staub wirbelte auf, während trübe Lichtstrahlen durch die verdreckten Fenster schienen. An der Decke hingen Spinnenweben mit den dazugehörenden Tierchen. Ich entdeckte Großmutters altes Geschirr. Damals waren wir alle oft hier gewesen, hatten viele Sommertage hier verbracht und im Vorgarten gegrillt oder einfach nur gebannt Großvaters Geschichten aus dem Krieg gelauscht. Nichts war schöner gewesen.

Nun stand ich, Jahre später wieder hier, doch es blieben nur noch die Erinnerungen, die den Ort märchenhaft erschienen ließen. Alte Bücher lagen aufeinander getürmt auf einer Theke neben einem kleinen Herd. Ich nahm eins und befreite es von Staub. Es handelte sich um eine Märchenfibel, Großvater hatte oft daraus vorgelesen. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, er trug dann immer diese Nickelbrille auf der Nasenspitze und ich hatte gelacht, es hatte einfach so urkomisch ausgesehen. Ich ertappte mich wie bei dem Gedanken schmunzelte und legte es wieder beiseite.

Nun war ich wieder hier, an jenem Ort, an dem ES geschah. Es war mein siebter Geburtstag, meine Großeltern brachten mich hierher, hatten meine Augen verbunden. Ich nahm ein Tuscheln wahr und meine Vorahnung bestätigte sich, als mir die Augenbinde abgenommen wurde. Meine Mutter und mein Vater standen in der Mitte des kleinen Raumes, umringt von meinen Freundinnen und James. Meinem besten Freund. Luftballons dekorierten den Raum und eine riesige Torte stand auf der kleinen Theke. Ausgelassene Stimmung und Gesang versüßten meinen Tag.

Doch dies sollte nicht von langer Dauer sein. Es begann zu regnen und wir suchten Schutz im Gartenhäuschen. Großvater versuchte die Situation zu retten und so lauschten wir dicht aneinander gedrängt seinen Geschichten.

Schwere Schritte waren von der kleinen Veranda zu vernehmen. Die Tür war nur angelehnt und so hörten wir den Regen niederprasseln und jene Schritte, die den Tag zu einem Albtraum machten. Ein Schatten fiel durch den Spalt und verharrte einen Moment. „Schatz, hatten wir noch jemanden eingeladen?“, fragte meine Mutter nachdenklich meinen Vater.

Doch zu einer Antwort kam es nicht mehr. Knarrend und quietschend glitt die Tür auf und ein Mann erschien. Er war ganz in schwarz gekleidet und hatte etwas Bedrohliches an sich. Mein Vater setzte sich auf. „Kennen wir uns? Haben Sie sich verlaufen?“ Als Antwort steckte der Mann seine Hand unter den schweren Ledermantel und zog etwas, im ersten Moment Unerkennbares, hinaus. Dann richtete er den Gegenstand direkt auf meinen Vater. Ein ohrenbetäubender Knall durchschnitt die Luft und ich hörte den Körper meines Vaters hart auf dem Boden aufschlagen. Nach und nach ein weiterer Schuss. Schreie. Ich spürte Hände, die sich um meinen Körper schlangen und nach hinten zogen. Meine Großmutter hatte mich unter einen kleinen Tisch mit einer Tischdecke gezogen, die bis zum Boden reichte. Wieder ein Schuss. Ein gellender Schrei. Erneut ein Schuss. Totenstille."

Die Psychologin richtet sich in ihrem Sessel auf. „Das ist wirklich eine tragische Geschichte.“ Und reicht dem Mädchen ein Taschentuch, um die bitteren Tränen zu trocknen. Noch nie hat sie jemanden so detailliert sprechen hören. Dankbar nimmt das Mädchen es an. „Zehn Jahre ist es her. Und es erscheint mir, als wäre es gestern gewesen. Jedes Mal, wenn ich schlafen gehe, sehe ich die leblosen Augen meiner Eltern vor mir. Jedes Mal…“

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Autorin / Autor: Joelle, 15 Jahre - Stand: 9. Juni 2010