219 Tage danach

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Vor wenigen Wochen habe ich geträumt, dass die Luft in unserer Wohnung mich verfolgt. Sie war grau und wabbelig. Ich bin in mein Zimmer gerannt, aber hier hat mich ein riesiges durchgeschlabbertes Kaugummi erwartet, es hat gekichert, aber ich fand  es trotzdem bedrohlich. Von hinten stürzte der Luftberg heran und mittlerweile hatte auch das Kaugummi sein wahres Gesicht gezeigt: Es watschelte auf mich zu und leckte sich bereits die aufgequollenen Lippen.
Wie das ja häufig ist, bin ich aufgewacht, bevor meine absurden Feinde zu mir gelangt waren. Mein Schlafanzug klebte an meiner Haut und ich atmete in dankbaren Zügen die durchsichtige, frische und stille Luft meines Zimmers ein. Leider gibt es bei uns nur zwei Orte, an denen es gut riecht: In meinem Zimmer natürlich und auf unserem Balkon.
Die Nase meines Vaters ist nicht zum Riechen da, ich glaube, es würde ihm noch nicht einmal auffallen, wenn sie mitten in der Nacht verschwinden würde, unwichtig sind auch Augen und Ohren, aber vermissen würde er seinen Mund.
Mein Vater ist Alkoholiker. Das klingt jetzt schlimmer als es ist, er kotzt nicht den Teppich voll und er schlägt mich auch nicht. Ich werde noch nicht einmal angeschrieen, mein Vater trinkt zuviel, aber er ist nicht verrückt, er schreit keine Luft an.
Zurzeit klebt sein Blick an der Wand hinter mir, ärgerlicherweise schaffe ich es nicht, ihn ebenfalls zu übersehen, immer wieder muss ich diese Stelle anstarren. Genau zwischen seiner Brust hat sein T-Shirt nämlich einen Fleck, seltsamerweise im selben Farbton wie die Tischdecke. Senfgelb. Selbst das Essen vor mir beruhigt mich nicht. Meine Brote werden zu senfgelben Monstern und statt Käse gibt es auf meiner Pizza diesmal warmen Senf, noch während ich herunterwürge, will ich alles wieder herauskotzen.
Dann schlurft er endlich in sein Zimmer und ich kann mich wenigsten noch auf das Tiramisu voll konzentrieren.
Sein Bett quietscht und ich beschließe, dieses T-Shirt stehlen zu gehen, denn morgen möchte ich wieder Abendbrot essen, ohne ihn beachten zu müssen.
Als ich die Tür einen Spalt breit öffne, springt mir der Gestank, den man schon gar nicht mehr beschreiben will und kann, ins Gesicht, dafür schleicht sich das Flurlicht hinein.
Mein Vater liegt auf dem Bauch, sein rechter Arm hängt über der Bettkante, das T-Shirt und ein weiteres zerknülltes Oberteil wurden achtlos auf dem Teppich geworfen. Er hat sich nicht zugedeckt und seine Hose nicht ausgezogen.
Das Ticken der Uhr ist das einzige Geräusch und während ich ihm beim Schlafen zuschaue, merke ich, wie leer das Bett ohne meine Mutter wirkt.
Mein Vater, er erinnert mich an einen Käfer, der auf den Rücken geworfen wurde und nur noch strampeln kann.
Ich gehe zurück in mein Zimmer. Das Fenster öffne ich, es regnet. Meine Jeans ziehe ich auch nicht aus, aber ich decke mich genau bis zur Nasenspitze zu. Ich würde gerne weinen, weil ich meine Eltern vermisse und weil mein Vater einsam ist.
Die Kälte von draußen strömt in mein Bett und ich beschließe, mir unter der Decke eine Höhle zu bauen, dort will ich mindestens einen Monat lang schlafen.
Erst jetzt rieche ich, dass nicht nur die kalte Luft, sondern auch dieser wundersame Regenduft zu mir gekommen ist und da renne ich in Papas Zimmer und öffne sein Fenster ganz weit.
Am liebsten würde ich zu meinem Vater ins Bett kriechen und ihm  versprechen, dass alles gut wird oder vielleicht möchte ich lieber durch den Flur tanzen, ich weiß es selber nicht genau.
Aber nun wird mir schlecht und ich muss ins Bad. Keine Sorge, dass ist nicht weiter schlimm, weil es jeden Abend passiert und irgendwie ist es beruhigend zu wissen, dass sich zumindest dies nicht ändert.

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Autorin / Autor: Regina, 17 Jahre - Stand: 4. Juni 2010