Zwischenwelten

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Ein Schritt und noch ein Schritt. Nur noch wenige Meter bis die Tür erreicht ist. Ein schmaler Lichtstrahl fällt durch den schmalen Spalt. Der goldene Streifen zerschneidet die tiefe Schwärze um mich herum. Noch ein Schritt und noch einen. Wenn ich meine Hand ausstrecke, kann ich das naturbelassene Holz berühren. Ob ich dir Tür berühren darf? Gehört das auch zum Verbot? „Die Tür nicht öffnen!“, hatte er – oder sie? – gesagt. Noch ein Schritt. Das Licht fühlt sich warm auf meiner Haut an. So lange war ich in der Dunkelheit, so lange...
Jetzt kann ich es hören. Vögelgezwitscher, Wind und das Plätschern von Wasser. Während meine Augen sich nur langsam an die ungewöhnte Helligkeit gewöhnen, nehmen meine Ohren jedes Geräusch war. Das Gras raschelt in der sanften Sommerbriese. Die Bäume raunen. Eine leise Melodie ist in der Luft. Und da ist die Stimme. Wie lange habe ich auf ihren Klang gewartet?

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Nach Tagen der Trauer beschloss ich endlich wieder unter Menschen zu gehen. Cathrine, meine beste Freundin, lag mir schon seit Tagen in den Ohren, ich solle doch endlich raus aus meinem Mauseloch. Mauseloch. Das klingt niedlich. Nach kleinen eifrigen Tieren, die umher laufen, flink und unfassbar. Ich lass mich garantiert nicht mit einer Maus vergleichen. Ich habe mich zurückgezogen, völlig energielos. Ich wollte niemanden sehen. Mich versteht eh keiner.
Vor zwei Wochen, bei einem Unfall, wurde Sven schwer verletzt. Seither liegt er auf der Intensivstation im Koma. Laut Ärztemeinung sollte er schon längst wieder erwacht sein. Er aber liegt weiter wie tot in seinem Klinikbett. Ich kenne Sven erst seit einem halben Jahr. Trotzdem habe ich ihm von Anfang an vertraut, blind. Es passte einfach mit uns. Ich war glücklich, sehr sogar – und dann passierte so etwas. Es hätte nicht geschehen dürfen und ist dennoch geschehen. Ich habe Schuld, irgendwie. Tief in mir nagen Zweifel. Hätte ich es nicht verhindern können? Ich weiß nicht mal genau, was ich hätte machen sollen. Aber es ist meine Schuld. Ich bin verantwortlich, einfach weil ich ich bin und Sven Sven.
„Unter Menschen gehen“ ist wie in der Masse untergehen. Ich mag die Vorstellung, in der Masse zu sein und in Ruhe gelassen zu werden. Zumindest ist das im Moment so. In der Masse kennt mich niemand, der mir gute Ratschläge geben will. Ich bin endlich alleine. Ziellos lasse ich mich von den Menschen um mich herum treiben. Wohin es geht, ist mir egal. Ich genieße meine Anonymität. Ein Schritt und noch ein Schritt. Der Strom trägt mich durch die Stadt. Wie ein kleines Boot werde ich mitgezogen. Plötzlich stehe ich in einer Seitenstraße. Wie ich dorthin gekommen bin? Das weiß ich selbst nicht so genau. Keine Menschenseele ist zu sehen. Es richt nach altem Kohl und nassem Hund. Über mir ragen Backsteinwände auf. Das Ende der Gasse liegt im Dunkeln. Mülltonnen runden das Bild ab. Hinter einer liegt ein Kleiderbündel. Ich hab mich verlaufen. Wo bin ich hier? Mein Handy habe ich natürlich zu Hause – mit wem will ich auch reden? Müde von meinem ausgedehnten Bad in der Menge, lasse ich mich auf den kalten Boden nieder. Es ist feucht. Der Nieselregen hinterlässt eine nasse Schicht auf meinen Haaren. Ich schließe die Augen.
Da nehme ich ein Geräusch war. Die Mülltonne ist umgekippt. Dahinter hat sich das Kleiderbündel aufgerichtet. Die Gestalt kommt auf mich zu. Ich konnte nicht viel mehr erkennen, als schwarze Stoffe, die einen menschlichen Körper verhüllen. Es scheint fast, als wäre der Stoff Körper geworden. „Du, hey, ich kann dir helfen.“ Oh nein, ich habe weder Kleingeld noch Kippen für dich. Verzieh dich. Ich habe keine direkte Abneigung gegen Obdachlose. Das sind halt Menschen, denen es schlechter geht als mir. Allerdings muss man als junge Frau vorsichtig sein. Ich lasse fremde Männer nie zu nah kommen. „Komm her, hör dir an, was ich zu sagen habe“. Ich schweige immer noch. Die Gestalt konnte sich erstaunlich gut artikulieren. Ich hatte eher mit typischer Gossensprache gerechnet. „Du bist aber ein harter Brocken.“ Das Kleiderbündel macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche instinktiv zurück. „Ich bring dich zu Sven.“ Den Weg zum Krankenhaus kann ich mittlerweile auswendig, den braucht mir keiner zu zeigen, danke. Ich ignorierte den Kautz weiterhin. „Sophie, ich meine es Ernst. Ich bring dich zu Sven. Nicht ins Krankenhaus, sondern zu Sven.“ Jetzt schien das ganze doch interessant zu werden. Bei genauerem betrachten, sah das Kleiderbündel gar nicht so verdreckt aus, wie ich angenommen hatte. Ob ich Vertrauen fassen kann? „Ah, ich sehe, ich habe dein Interesse geweckt.“ Ich nicke knapp, aus Angst mein Gegenüber würde aufgeben. „Ich bin gleich verschwunden, du brauchst nicht nervös zu werden. Folge dann einfach meinen Anweisungen. Geh ins Dunkel am Ende der Gasse. Geh immer weiter. Irgendwann siehst du einen Lichtstreifen, der durch eine Tür fällt. Öffne diese Tür nicht. Versprich es mir. Du darfst die Tür nicht öffnen! Was auch immer geschieht.“ Mit diesen Worten sackte das Stoffbündel zu Boden und sah aus wie zuvor. Mich hatte es gepackt. Was für ein Hirngespinst mir da gerade einen Streich gespielt hatte, ich musste versuchen, zu Sven zu kommen. Ich bewegte mich auf die Dunkelheit zu. Es wurde schwarz und ich verlor jedes Gefühl. Ich war im Nichts angelangt.

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Ein schmaler Lichtstreifen. Die Tür. Ein Schritt und noch ein Schritt. Nur noch wenige Meter bis die Tür erreicht ist. Ein schmaler Lichtstrahl fällt durch den schmalen Spalt. Der goldene Streifen zerschneidet die tiefe Schwärze um mich herum. Noch ein Schritt und noch einen. Wenn ich meine Hand ausstrecke, kann ich das naturbelassene Holz berühren. Ob ich dir Tür berühren darf? Gehört das auch zum Verbot? „Die Tür nicht öffnen!“, hatte er – oder sie? – gesagt. Noch ein Schritt. Das Licht fühlt sich warm auf meiner Haut an. So lange war ich in der Dunkelheit, so lange...
Jetzt kann ich es hören. Vögelgezwitscher, Wind und das Plätschern von Wasser. Während meine Augen sich nur langsam an die ungewöhnte Helligkeit gewöhnen, nehmen meine Ohren jedes Geräusch war. Das Gras raschelt in der sanften Sommerbriese. Die Bäume raunen. Eine leise Melodie ist in der Luft. Und da ist die Stimme. Svens stimme. Er singt unser Lied. Er hat es eigens für uns geschrieben. Endlich kann ich ihn erkenne. Er sitzt im Gras völlig entspannt. Ich liebe ihn! Ich will zu ihm. Mich an ihn schmiegen. Seinen Atem auf meiner Haut spüren. Ich will sein Lachen hören, wenn meine Haare seinen Hals kitzeln. Ich will ihn berühren. Ich muss mich doch überzeugen, dass es kein Trugbild ist. Ich muss doch zu ihm. Da ist soviel, was ich ihm sagen muss. Ich muss, muss, muss, muss ........ Er lächelt und sieht mich an. Ob er mich wohl auch erkennen kann, so wie ich ihn? Er bewegt seine Lippen. „Sophie“. Er sagt meinen Namen. Er sieht mich. „Sophie“, noch einmal. Wie von selbst bewegt sich mein Fuß über die Schwelle. Dann sehe ich nur noch Licht. Sven ist weg. Die Lichtung ist weg. Die Musik ist weg. Ich fall in gleißende Helligkeit.

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Autorin / Autor: missmarie, 17 Jahre - Stand: 2. Juni 2010