Besuch in Beerheide

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

In meinem Auto ist es heiß. Ich trage nicht das strenge Kostüm, das ich in meinem Beruf als Prozessanwältin brauche, sondern sportliche Kleidung. Ich arbeite seit einem Jahr und es läuft ganz gut. Mein Jurastudium war keine Verschwendung. Der Weg nach Beerheide findet sich mit dem Auto nicht so leicht. Ich fahre als Erstes in die Umleitung, vor der meine Mutter mich bei dem Telefonat vor zwei Wochen gewarnt hat. Doch nun bin ich auf dem richtigen Weg. Ich lenke meinen Mercedes den Berg hinauf und parke ihn erstaunlicherweise gleich beim ersten Versuch richtig ein. Normalerweise fahre ich einige Male hin und her, da ich gerne alles möglichst sauber hinterlasse. In dieser Beziehung bin ich wie meine Eltern: ich bin ein ordentlicher Mensch. Ich schließe die Autotür und drehe den Schlüssel im Schloss um und werfe dabei einen Blick zum Himmel. Er ist dunkel, bestimmt wird es regnen. Mein Blick wandert weiter zum Fenster der Wohnung. Die Wohnung, in der ich vor zehn Jahren noch gelebt habe. Sie haben die Rollläden noch nicht heruntergelassen, aber es wird trotzdem wieder dunkel im Wohnzimmer sein, da das Fenster mit dichten, weißen Vorhängen verhängt ist, damit die Leute auf der Straße auch ja nicht hinein schauen können. Aber was gibt es in dem Zimmer schon zu sehen außer zwei etwas ältere Menschen, die abends im Fernsehen die Nachrichten gucken?

Ich gehe zum Haus hinüber und schließe die Tür mit meinem alten Schlüssel auf. Mein Vater hat ihn mir bis heute nicht abgenommen, so dass ich in die Wohnung ein und ausgehen kann wann ich will. Theoretisch. Natürlich kann ich das nicht wirklich tun, sie würden einen Schock bekommen wenn ich auf einmal in der Küche sitzen und Tee trinken würde. Einen ganzen Monat würden sie kein Wort mit mir sprechen. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss. Ich bleibe nachdenklich vor der Wohnungstür stehen. Sie ist nur angelehnt. Offenbar holt meine Mutter wieder Getränke aus dem Keller nach oben. Mein Vater sitzt in einem Sessel im Wohnzimmer und telefoniert. An dem Ton wie er redet kann ich erkennen, mit wem er spricht.

„Anna kommt uns heute besuchen.“ Mein Vater lässt seinen Gesprächspartner wie immer nicht zu Wort kommen und verkündet mit rechthaberischer Stimme: „Ja, Anna wohnt jetzt in Nürnberg. Sie fährt mit dem Auto ganz früh los.“ Wieder eine kleine Pause und mein Vater ruft sofort: „Ich sage ihr ja immer, dass das ungesund ist! Ich sage es ihr jedes Mal wenn sie hierher kommt, aber sie will nicht auf mich hören!“ Nach einem zischenden Luftholen von Seiten meines Vaters, was der Andere sicher als Sprechpause aufgenommen hat unterbricht er ihn in seinem angefangen Satz.

„Anna hört seit Jahren nicht mehr auf mich! Sie macht, was sie will Matthias! Sie hat doch jetzt schon wieder einen neuen Freund, hat sie dir das nicht erzählt?“ Nun, nachdem er seinen Gefühlen Luft gemacht hat, kann er meinem Onkel auch wieder halbwegs zuhören.

„Ja, siehst du“, sagt er. Und dann: „Nein wir haben die Betriebswirtin genommen.“  Auf einmal höre ich Schritte und den dumpfen Klang von aneinanderstoßenden von Glasflaschen.

„Mama!“, rufe ich und eile ihr auf der Treppe zum Tragen zur Hilfe. Sie lädt sich immer zu viel Arbeit auf. Sie ist so schmal und zerbrechlich, dass ich es kaum ertragen kann, sie so etwas Schweres schleppen zu sehen. Ich nehme ihr den Korb mit den Flaschen ab, den meine Eltern solange besitzen wie ich denken kann.

„Anna“, sagt meine Mutter etwas atemlos. Wir umarmen uns nie. Das hole ich dann immer bei meinem Freund nach.

„Das du jetzt schon da bist. Ich habe dich erst in zwei Stunden erwartet, den Kuchen habe ich gerade erst zum Auskühlen auf den Tisch gestellt.“

„Macht doch nichts Mama, ich kann warten.“

„Wie lange bleibst du heute?“

„Ich muss um fünf wieder fahren, weil ich morgen noch einen schwierigen Fall nachbearbeiten muss.“

„Ach so.“ Wir sind oben angekommen und gehen in die Wohnung, wo mein Vater das Telefonat beendet. Ich stelle die Getränke in der Küche ab und begebe mich dann mit meiner Mutter ins Wohnzimmer.

„Hallo Anna“, sagt mein Vater und haucht mir einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn.

„Hallo Papa“, sage ich und lasse mich auf dem mittleren von drei Sesseln nieder. Meine Mutter setzt sich auf den links von mir, nachdem sie die Tür geschlossen hat.

„Erzähl doch Anna“, fordert mein Vater mich zum Reden auf, „wie läuft die Arbeit?“

„Sie läuft gut. Ich glaube, dass ich den Prozess gewinne, der Richter ist auf meiner Seite.“ Viel mehr kann ich ihnen nicht erzählen. Nachdem wir uns ausgiebig über ihre Arbeit unterhalten haben, erstirbt das Gespräch bald und meine Mutter tischt prompt den noch minimal warmen Kuchen auf. Mit keinem Wort erwähnt mein Vater seine Unzufriedenheit über mein Liebesleben und ich bemühe mich, mir nicht anmerken zu lassen, dass mich das Gehörte verletzt hat. Ich habe keine Kraft meinen Vater zur Rede zu stellen. Diesmal spüre ich wie dünn das Netz aus Illusionen ist, das wir uns immer zurecht spinnen, weil wir die Wahrheit nicht ertragen. ür meine Eltern ist es ganz normal sich etwas vorzumachen. Mir fällt es immer schwerer. Besonders nach dem Telefonat, das ich heute belauscht habe.

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Autorin / Autor: Mary99, 15 Jahre - Stand: 14. Mai 2010