Die andere Welt

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Er hatte sich zurückgezogen. Hier an diesen stillen, verlassen Ort, an den nie ein Mensch kam. Er hielt sie nicht mehr aus, diese gefühllosen, vor sich hin starrenden Puppen. Überall um ihn herum. Er konnte die Welt nicht mehr verstehen. In seiner Kindheit war alles harmonisch gewesen. Es hatte dort nur Gut oder Böse gegeben. Menschen hatten ihn angelächelt, er hatte viel Spaß gehabt und gespielt. Aber jetzt... er hatte nie auf die Tiefe der Seele geblickt. Die Welt war ihm immer fremder geworden. Er wehrte sich mit aller Kraft gegen sie. Gegen diese uniforme, immer gleich aussehende Menschenmasse, die anscheinend glaubten, für immer leben zu können. Sie hatten keinen Sinn für Freundlichkeit mehr. Die meisten interessierten sich nur für ihre Arbeit. Was war das für eine Gesellschaft? Sie ließen sich von reichen Leuten diktieren. Alle.
Die gleiche Kleidung.
Die gleichen, kaltherzigen Werte.
Kein Sinn.
Macht.
Sie fixierten sich auf Erfolg und kurzfristiges Glück. Hier und jetzt und alles. Das zählte.
Manchmal fragte er sich, ob sie schon immer so gewesen waren und er das nur nie bemerkt hatte. Er saß auf dem Sandboden. Abgeschirmt von der Außenwelt. Das alte Fabrikgelände. Seine Zuflucht. Er wollte alleine sein. Er konnte dieses falsche Spiel, das anscheinend auf der ganzen Welt gespielt wurde, nicht ertragen. Es war falsch. Er wollte diese kalten Herzen erweichen, ihren Blick auf das Glück leben zu dürfen richten. War er der Einzige, der so dachte?
Plötzlich hörte er hinter sich Schritte näherkommen. Ruckartig drehte er sich um und erkannte sie.
Sie trug ein gelbes T-Shirt und sie lächelte.
Hier bist du also, sagte sie.
Er antwortete nicht. Was suchte sie hier?
Sie setzte sich neben ihn und schaute ihn an.
Ich kenne diesen Platz hier... erklärte sie ihm. Ich habe gesehen, wie du hierher gegangen bist. Was ist los? Du siehst so traurig aus.
Er schaute sie kurz an und blickte dann gen Himmel. Er seufzte. Würde sie ihn verstehen? Er sprach mit niemandem über seine Sorgen. Schon gar nicht mit einer Mitschülerin. Was soll’s, dachte er und sagte ihr, dass er es hasste, nicht als Person anerkannt zu werden. Wie es ihn störte, dass die Gesellschaft nur in Schubladen dachte.  Er erzählte ihr, wie er die Leute verachtete, die andere nicht tolerieren wollten, wie leid er es war, dass die Leute sich ständig hinter einer Fassade versteckten, aus Angst verletzt zu werden.
Sie stimmte ihm zu und sagte, man kommt nur schwer an das wahre Ich einer Person heran...  Meine Großmutter hat mir als Kind immer erzählt, dass zu jeder Seele eines Menschen eine Tür führt. Sie ist nur angelehnt. Du kannst, wenn du vorsichtig bist und Vertrauen zu dem Menschen gefunden hast, eine ganze Welt dahinter entdecken. Keiner kennt den anderen. Erst wenn du diese Welt hinter der Türe betrittst, wirst du entdecken, dass dir diese Person ähnlicher ist, als du es je vermutet hast...
Du wirst erstaunt sein, wie jeder sich im Grunde nach dem gleichen sehnt: Zufriedenheit, Sinn und Liebe. Die einen verschließen ihre Türe, weil sie in der heutigen rationalisierten Gesellschaft Angst davor haben, sie selbst zu sein, Schwäche oder Gefühle zu zeigen. Manche verschließen sie nach schlechten Erfahrungen. Manche werden sie niemals ganz öffnen. Ist das nicht schade? Es steckt so viel hinter diesen Türen.
Träume. Ideen. Gefühle.
In jedem Menschen. Abertausende unausgesprochene Gedanken. Jeder Mensch ist so unfassbar vielseitig...
Sie stockte, entschuldige, wenn ich mich träumerisch anhöre...
Doch er starrte sie nur an, bewundernd, ihre Tür hatte sich geöffnet. Sie war ihm näher als er es jemals erwartet hatte. Er hatte wieder Hoffnung geschöpft. Endlich lächelte er.

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Autorin / Autor: Mietzi8, 18 Jahre - Stand: 28. Mai 2010