Mit meiner Wange an dem kühlen Holz

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Das erste Mal war ich vermutlich noch wacklig auf speckigen Kinderbeinen, als ich die Hand an das tiefdunkle Holz legte und sie nur so weit über den weichen Teppichboden schob, dass ich in das Zimmer hineinsehen konnte.
Damals hatte sie wahrscheinlich mit Puppen gespielt. Hatte sie angemalt, ihnen die Haare geschnitten.
Ein paar Wochen habe ich sie dabei beobachtet, wie sie nur auf ihrem Bett hockte und las. Dann lernte sie für mehrere Monate Tanzen. Sie stand vor ihrem Spiegel und bewegte sich zu der leisen Musik. Bis alles passte. Dann ließ sie es wieder sein, widmete sich dem Malen. Spielte Theater. Redete mit sich selbst. War Sekretärin, Ärztin, Maklerin oder Friseurin.
Immer häufiger waren andere Mädchen bei ihr, ab und zu ein Junge, der gelangweilt auf dem Boden saß. Wenn die anderen Kinder wieder weg waren, sah sie sich oft lange in ihrem Zimmer um. Musterte die Wände und die vielen Möbel.
Dann schenkte ihr die Mutter ein Schminkköfferchen. Eine Dose Puder, eine Wimpernbürste, Lippenstifte in vier verschiedenen Farben, Rouge, Lidschatten und ein kleines Fläschchen Parfum. Bis heute erinnert mich der Geruch von Make-up an die Stunden, in denen ich durch einen kleinen Spalt den Duft ihres Lebens aufgesogen habe. Den Duft des kleinen Parfumfläschchens, den Duft ihrer Ölfarben, den Duft von Alkohol und Schweiß, den Duft von zu viel Rasierwasser und Sex. Egal wie alt ich war, jedes mal wenn ich mich an ihre Tür heran schlich, schloss ich für einen Moment die Augen, um mich von dem Geruch einnehmen zu lassen. Vertraut, erschreckend und verlockend.
Auch Geräusche gingen in dem großen Haus fast nur von dem kleinen Spalt aus. Musik und Gelächter, Schreie und Geklirr wehten zu mir, wenn ich still und reglos auf dem Flur stand, den Atem anhielt und sie beobachtete.
Mit dem Schminkköfferchen kamen auch die drei aus ihrer Schule. Die, mit der dunklen Haut. Ab und zu hatte sie wunderschönes Haar, wenn sie morgens auf dem Sofa in dem Zimmer aufwachte oder weinend in den Armen der anderen lag. Dann sprangen ihr die kleinen Locken um das schmale Gesicht, die ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht habe. An die Haarfarbe der zweiten kann ich mich nicht erinnern, wahrscheinlich wechselte sie in sieben Jahren so oft, dass mir kein stetiges Bild von ihr erhalten ist, aber ich weiß, dass ihr Geruch die ausgewogenen Düfte im Haus durcheinander brachte. Die dritte hatte feuerrotes Haar und grüne Augen. Sie funkelten im Dunkeln.
Ich sah die vier Mädchen wie sie sich gegenseitig küssten und abends stundenlang Kleider anprobierten. Wie sie gemeinsam in Zeitschriften blätterten und sich auf Notebooks Videos ansahen. Sie schminkten sich, lachten und tranken aus Flaschen, die sie unter dem Bett versteckt hielt.
Ich hörte, wie sie laut lachten und wie das Mädchen mit den roten Haaren sang. Sie lasen sich gegenseitig Gedichte vor und hörten Musik, sprachen über ihre Eltern und über geile Typen.
Ich roch, wie sie sich eincremten und wie sich die Tropfen ihrer Parfums auf die Haut setzten. Der Geruch von Haschisch und Erbrochenem wehte durch den Spalt.
Ich ging aus meinem Zimmer und ließ die Tür hinter mir immer offen. Setzte einen nackten Fuß vor den anderen um kein einziges Geräusch zu machen und schlich den Flur hinunter. Der Flur war groß und breit, auf jeder Seite waren Türen, die zu Zimmern führten, alle geschlossen, bis auf ihre. Ihre war angelehnt. Ansonsten unterschied sie sich in keinster Weise von denen, die bedeutungslos waren, hinter denen sich keine Welt verbarg, die mich auch nur im entferntesten interessiert hätte. Sie war ebenso riesig, egal wie groß ich selbst war, und ebenso dunkel und schwer. Aber ich konnte sie einen Spalt öffnen und trotzdem verbarg sie mich. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich, seit ich laufen konnte, an dieser Tür stand, dass ich schnell ein Gespür dafür entwickelte, ob jemand kam. Hausangestellte, ihre Freunde, die Männer die nachts heimlich zu ihr ins Zimmer schlichen - ich spürte die Anwesenheit von jedem. Und ich war schnell und leise genug um niemals bemerkt zu werden. Für mich war es selbstverständlich, dort zu stehen, die Wange an dem kühlen Holz. Egal, ob ich drei oder vierzehn Jahre alt gewesen war. Die Tür war niemals zugezogen. Immer angelehnt. Für mich war es wie eine Einladung. Mit mir hat nie jemand viel gesprochen, mich hat nie jemand besonders beachtet. Vielleicht konnte ich deswegen alles beobachten. Ihre Tänze vor dem Spiegel, die Küsse mit dem dunkel gelockten Jungen und wie sie ihren Freundinnen die Haare schnitt. Die angelehnte Tür war das einzige, was mich an ihrem Leben teilhaben ließ. An dem einzigen Leben, an dem ich jemals interessiert war. Das meiner Eltern kannte ich nicht, es spielte sich im zweiten Stock ab. Mein eigenes begann viel später, als ich neunzehn Jahre alt wurde und sie auszog. Als ihr Zimmer leer war und ich zum ersten Mal in der offenen Tür stand, wusste ich, dass es nun Zeit für mein Leben war. Bis dahin hatte ich an ihrem teilgenommen, sie Stunde um Stunde durch den Spalt beobachtend. Meine Schwester.

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Autorin / Autor: jojo, 16 Jahre - Stand: 25. Mai 2010