„Vielleicht ein halbes Jahr? Ich weiß es nicht“, gestand Drago zusammengesunken. Seine Augen schienen ins Leere zu blicken, mit einem Mal wirkte er völlig kraftlos.
Plötzlich stampfte Aura mit dem Fuß auf: „Was soll denn der Unsinn? Diese Prophezeiung muss doch nicht wahr werden! Wir können sie doch bestimmt verhindern, oder? Ich meine… Wir wissen ja noch nicht einmal, woher diese Prophezeiung stammt. Jemand hätte sich das auch ausdenken können!“
„Nein“, meinte Drago und starrte in die Ferne. „Ich habe sie vor langer Zeit… aus verlässlicher Quelle erhalten.“ Er richtete sich zu voller Größe auf. „Aber wir könnten die Prophezeiung aufhalten. Wir müssen sie aufhalten. Mir bleibt keine andere Wahl. Ich könnte mein ganzes Leben lang nicht mehr mit mir im Reinen sein. Deine Prophezeiung, Enya, werde ich nicht zur Realität werden lassen!“
Da ergriff Neró das Wort. Er schaute von Enya zu Drago. „Woher wissen wir überhaupt, dass die Prophezeiung von Enya spricht?“
Drago seufzte und zählte dann auf: „Aus der Welt der Menschen wird sie kommen. Das ist eingetroffen. Enya hat außerdem als erste von euch Dragosia gefunden.
Nicht gefürchtet und nicht geachtet. Das stimmt auch. Enya allein weiß das.
In einer neuen Welt wird sie angenommen. Das ist bereits geschehen: Alle Tiere in Dragosia schätzen Enya. Sie halten sie für eine Botschaft Entarnas. Ich habe mich seit ihrer Ankunft bei den Bewohnern Dragosias umgehört.
Das Wahrzeichen Dragosias wird sie tragen. Enya kennt das Symbol dieses Königreiches bereits. Plum hat es mir erzählt.“
Die Hüterin des Feuers schnappte nach Luft.
Das Bild, das auf Auras Button abgebildet ist… Es ist das Wappen Dragosias!
Drago sprach unbeirrt weiter. „Und der Rest hat noch nicht stattgefunden.“
Eine steile Falte bildete sich zwischen Jordans grünen Augen, als er hinzufügte: „Das Feuer des Zusammenhalts und des Muts sie entfachtet. Das könnte mit ihrem Element zusammenhängen!“ Na super, dachte Enya. Dieses eine Mal hätte sie sich gewünscht, dass Jordan seine Schlussfolgerung für sich behalten hätte.
Drago nickte zustimmend und schien wohl dasselbe zu denken. Er bemühte sich um einen fröhlicheren Ton, als er bemerkte: „Wir sollten die Zeremonie nicht vergessen. Also los. Stellt euch in einer Reihe vor mir auf.“
Es war inzwischen dunkel, und somit standen die vier Auserwählten im Mondschein.
„Wobei…“ Drago schien nachzudenken. „Es handelt sich um eine sehr große Bürde, die ich euch auferlegen werde, und ich möchte, dass ihr zuerst das Maß ihrer Wichtigkeit zu spüren bekommt.“
„Was?“ fragte Aura verwirrt. Enya musste ihr gedanklich zustimmen.
„Die Macht der Elemente ist eine der ältesten Kräfte der Erde. Eine der ältesten Gewalten überhaupt. Die Elemente arbeiten zusammen und gegeneinander. Ein tiefes Verständnis ist nur durch direkte Konfrontation möglich. Nehmt euch an den Händen.“ Neró und Jordan tauschten einen irritierten Blick, Aura starrte leicht angewidert auf den Boden und Enya zog eine Grimasse. Dennoch taten die vier Jugendlichen wie geheißen. Sie stellten sich zu viert in einen provisorischen Kreis und griffen nach ihren Händen. Und plötzlich spürte Enya, was Drago meinte. Ihr Magen schien einen Salto zu schlagen. Sie spürte, wie sich ihre Füße fest auf den Boden stemmten, wie sich die Kraft über sie ergoss, über sie hinwegfegte und stark in ihr brannte. Es war wie pure Energie, deren geballte Ladung durch sie hinweg pulsierte. Sie schien zusammenzuführen und im selben Moment zu zerreißen. Enya fühlte sich stark und schwach zugleich. „Und nun trennt euch voneinander!“, drang Dragos Stimme wie ein entferntes Echo zu ihnen vor. Mühsam ließ Enya los, und sie und die anderen taten geschwächt ein paar Schritte zurück.
„Aura!“, rief Drago. „Trete vor.“ Seine Stimme schien von weit her zu kommen.
Sobald Aura etwas benommen zu Drago gelaufen war, fuhr er fort: „Beginnen wir nun offiziell mit der Zeremonie. Aura, ich habe dich ausgewählt, weil du in all den Situationen, in denen du je zu leiden hattest, noch immer an andere gedacht hast.
Es tat mir wirklich im Herzen weh, als dein Vater betrunken nach Hause kam und du den Namen deiner Mutter geflüstert hast, wenn die Haustür jedes Mal aufging.
Du liebst es, dich im Freien aufzuhalten. Selbst die Windstärke eines Orkans ist dir nicht zu stark. Ich überreiche dir damit das Element der Luft. Ich hoffe, dass du dem Gegenwind standhältst und deine Aufgabe als Hüterin der Luft nicht vernachlässigst. Du bist siebzehn Jahre alt, die Älteste von den Elementhütern. Das sollte dich anspornen.“
Er breitete die Klauen über Auras Kopf aus. Für einen kurzen Moment sackte Aura in sich zusammen, als die neue Bürde auf sie traf. Dann fuhr sie ruckartig wieder hoch.
Langsam ging sie an ihren Platz zurück.
Enya lächelte ihr aufmunternd zu, und die Hüterin der Luft grinste etwas schwach zurück.
„Neró!“, tönte Drago, „trete vor!“
Der Junge tat wie geheißen. Enya beneidete ihn um seine ungewöhnliche, gelassene Ruhe.
„Mit deinen sechzehn Jahren hast du schon ungewöhnlich viele Schwimmabzeichen errungen. Wortwörtlich, im Wasser wirkst du wie ein Fisch.
Du hast neben deinem Bruder am Schreibtisch gesessen und hast ihm Tag für Tag geholfen. Nicht nur bei den Hausaufgaben, sondern auch bei seelischen Sorgen. Als er in die Welt der Depressionen sank, hast du ihm aus dieser Phase wieder herausgeholfen, das habe ich beobachtet. Nur du kannst mit jemandem ein solches Verhältnis aufbauen.
Aber nimm dich in Acht, Neró: Ich weiß, was dich hier hält, und wenn du zu weit gehst, wird das Konsequenzen haben.“
Er überdachte Nerós Kopf wie bei Aura. Man sah ihm an, dass er mit der neuen Last kämpfte. Schließlich wirkte sein Zustand stabiler und er trottete zu den anderen zurück.
„Jordan!“, rief der Drache, „komm her!“
Der Junge mit der Brille trat näher. Auch er war wie zuvor Aura ziemlich aufgeregt, wirkte jedoch gefasst.
Da nahm Drago wieder den Faden auf: „Jordan, dein Wissen über Fauna, Flora, Gesteine und Mineralien ist erstaunlich. Du ehrst die Erde, ihre Geschichte und ihre Schätze, und deine Wissbegierde ist groß.
Es ist schade, was du aufgrund deines Talents alles durchmachen musstest. Hochbegabt zu sein, ist etwas Besonderes, aber die meisten sehen das nicht ein. Ich dagegen schon. Mit deinen fünfzehn Jahren schon so viel zu wissen und zu verstehen, ist großartig. Und mit seinem Wissen nicht zu prahlen und Bescheidenheit an den Tag zu legen, so wie du, ist umso erstaunlicher.“
Er bedeckte Jordans Kopf mit beiden Klauen und übergab auch ihm sein Element, die Erde. Als der Junge taumelnd zurückschwankte, sagte Drago laut: „Enya. Trete heran.“
Ihre Knie zitterten vor Anspannung, doch das ließ sie sich nicht anmerken. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus.
Hoffentlich mache ich alles richtig.
„Natürlich machst du alles richtig“, bemerkte da der Drache.
Enya zuckte zusammen. Sie spürte, wie die Hitze in ihren Kopf stieg, und wusste, dass sie rot geworden war.
Langsam leuchtete ihr ein, dass er Gedanken lesen konnte.
„Machen wir weiter.“ Sie hörte ein Schmunzeln in Dragos Stimme, doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst und er fing da an, wo er aufgehört hatte: „Enya, du bist die Jüngste von allen. Mit vierzehn Jahren schon so eine schwere Last auf den Schultern zu tragen, ist nicht einfach. Aber ich konnte nur dich wählen. Einzig du allein bist die Richtige für diese Aufgabe. Obwohl… oder gerade weil…“ Seine Stimme versagte. Leise, soeben noch vernehmbar, murmelte er: „Ich bin dir etwas schuldig. Etwas, dass ich nie wieder gutmachen kann…“
Er versucht, sich für etwas zu entschuldigen? Enya spürte, dass Drago dabei war, etwas äußerst Wichtiges preiszugeben. Angesichts der Worte bildete sich nochmals eine leichte Gänsehaut auf ihrer Haut. Es ist… als ob er mich schon lange kennen würde. Doch diesen Gedanken, wo er doch so unmöglich schien, verwarf sie wieder. Sie hörte, wie Aura, Neró und Jordan hinter ihrem Rücken tuschelten. Warum bringt er es nicht so schnell hinter sich wie bei den anderen?, fragte sie sich. Sie fühlte sich ziemlich unwohl in ihrer Haut.
Doch genauso unmittelbar, wie die Szene begonnen hatte, verstrich sie auch. Drago schien zu bemerken, dass er die Zeremonie aufhielt. In normaler Stimmlage sprach er weiter: „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, doch er wird noch kommen. Lassen wir das Thema vorerst ruhen. Die Tiere behalten recht damit, dass du große Charakterstärke und unentbehrlichen Mut hast. Sie sind das Feuer in dir, Enya. Ich weiß, dass du es schaffen wirst, dein Element zu kontrollieren.“
Er überdachte ihren Kopf, und es sah so aus, als ob er sie schützen wolle.
Heiße Energie strömte durch ihren Körper. Sie war kurz davor, auf die Knie zu fallen, da hörte der Kraftaufschub auf. Mühsam konnte sie sich aufrichten. Ihr war zunächst schwindlig, doch als sie ihren Kopf schüttelte, sah sie wieder klar vor Augen.
Auf einmal schossen Bilder durch ihren Kopf, Bilder von Feuer. Vor ihrem inneren Auge erschienen Buschbrände in Afrika, die ganze Dörfer vernichteten, Vulkanausbrüche und Menschen, die um verlorene Familienmitglieder und Gegenstände trauerten und sich gegenseitig trösteten.
Da wendete sich das Blatt und knisternde Kaminfeuer, leuchtende Kerzen und gefüllte Backöfen bahnten sich einen Weg in ihre Gedanken. Ureinwohner saßen um ein Lagerfeuer herum und sangen zusammen. Doch das Bild war verblichen- genauso leblos, wie ihre Ausrottung die Ureinwohner Amerikas hinterlassen hatte, und genauso tot wie all die Erinnerungen, die Kultur und die verlorenen Traditionen.
Als endlich Ruhe in ihr herrschte, stolperte sie zu den anderen Elementhütern.
Währenddessen hatte Drago die Stimme erhoben: „Ein Element zu verwalten, ist keine besonders schwere Aufgabe. Ich muss allerdings sagen, dass ich mich jetzt, wo ich die vier Elemente abgetreten habe, etwas leichter fühle.“ Ein Schmunzeln schwang in seiner Stimme mit. „Was ich euch noch mit auf den Weg geben möchte: Wenn ihr ein Ziehen in eurer Brust spürt, dann wisst ihr, dass eine Katastrophe naht, die euer Element betrifft. Und falls kurze Zeit später auch Visionen auftreten, müsst ihr einschreiten. Ihr setzt dann eure gesamte Willensstärke ein, um das Unglück abzuwenden.
Bei dir, Enya, könnte es ein Vulkanausbruch sein oder ein sehr aufgreifender Waldbrand. Bei Neró ein Tsunami oder eine Überschwemmung. Monsun kann dabei auch nicht ausgeschlossen werden. Bei Aura ein Tornado, ein Orkan oder ein Hurrikan. Und du, Jordan, hast mit Erdbeben zu kämpfen.“ Er kratzte sich am Kinn, bevor er hinzufügte: „Spätestens ab Stärke drei wird sich dein Instinkt bei dir melden.“ Etwas ernster fügte er an: „Sollte sich solch eine Katastrophe anbahnen, so werdet ihr sie nie aufhalten können, denn das ist der Lauf der Natur, der von Entarna vorgegeben ist. Ihr werdet sie lediglich lindern können, wie ein durch Krankheit bedingter Schmerz, sodass sie nicht zu viel Schaden anrichten und Leben kosten. Doch auch hier gibt es Grenzen, und die werdet ihr kennenlernen. Insofern ist es vielmehr eine psychische Belastung.“
Die Elementhüter nickten. Sie hatten genau zugehört, um sich immer an seine Worte zu erinnern.
„Können wir jetzt schlafen gehen?“, erkundigte sich Aura, der allmählich die Augen zufielen.
„Jaja. Macht, dass ihr ins Bett kommt. Morgen müsst ihr wieder zeitig aufstehen. Dann wird endlich der Unterricht beginnen. Der Krieg, der in der Prophezeiung angesprochen wird, rückt schließlich näher.“ Als er wortlos angestarrt wurde, fügte er hinzu: „Welcher Krieg auch immer.“
Damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein. Er verzog sich in seine Höhle, bis auch seine Schwanzspitze in der Dunkelheit verschwunden war.
Die Jugendlichen blickten sich schweigend an.
Enya schauderte, als Dragos Worte in ihrem Kopf widerhallten: Der Krieg rückt schließlich näher. Eine Stimme meldete sich in ihren Gedanken zu Wort: Und dein Tod auch.
Da riss Neró sie, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, in die Realität zurück: „Du siehst wirklich hübsch aus, Enya.“
Der Hüter des Wassers sah sie mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen an, von dem Enya schwindlig wurde.
Sollte das ein Kompliment sein?
Neró schien auf eine Erwiderung zu warten, doch es kam keine. Enyas Mund fühlte sich auf einmal an wie ausgedörrt, und sie brachte keinen Satz zustande, während ihr Herz wie wild in ihrem Brustkorb pochte.
„Komm, Jordan. Ich bin müde“, sagte Neró schließlich rasch.
Jordan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, nickte Aura und Enya noch zum Abschied kurz zu und begab sich hinter seinem Freund den Baum hinauf zur Hütte.
Die beiden Mädchen blieben allein zurück.
„Dann können wir doch auch schlafen gehen“, meinte Enya unbekümmert und bemühte sich um einen heiteren Tonfall. Sie tat einen Schritt, als Aura sie an der Schulter packte und zurückzog.
„Lass mich los!“, sagte die Hüterin des Feuers und wollte sich losreißen, als sie Auras ernsten Gesichtsausdruck bemerkte.
Seufzend ließ sie nach.
„Enya… das ist nicht sehr ratsam, worauf du dich da einlässt“, erklärte Aura ernst.
„Worauf willst du hinaus?“
Die Hüterin der Luft verdrehte die Augen. „Das ist doch langsam unübersehbar, das mit dir und Neró! Aber du darfst seine Gefühle nicht erwidern!“
„Wer hat denn hier von Gefühlen gesprochen?“, widersprach Enya verwirrt und fragte sich im selben Moment, ob ihre Freundin vielleicht doch Recht mit ihrer Aussage hatte.
Auras Blick wurde weicher, als sie antwortete: „Das ist mehr als Freundschaft, was sich bei euch beiden entwickelt. Das musst du dir eingestehen. Das war schon so, als ihr euch das erste Mal gesehen habt.“
Enya machte den Mund auf, um zu protestieren, doch es kam kein Laut heraus.
„Es kann einfach nicht gehen. Feuer und Wasser- die Elemente dürfen sich nicht zu nahe kommen! Das könnte verheerende Folgen haben. Drago ahnt auch schon etwas. Er hat Neró diesbezüglich bei der Zeremonie indirekt angesprochen, weißt du nicht mehr?“ Sie ließ eine Pause. „Er ist nur wegen dir in Dragosia geblieben! Neró wäre sofort in die Menschenwelt zurückgekehrt, wenn du nicht wärest. Drago wird entweder Neró oder dich auf das Abstellgleis stellen, wenn er merkt, dass ihr euch immer mehr anzieht!“
Enya blickte in die himmelblauen Augen ihrer Freundin und erkannte dort eine Spur von Bedauern. Plötzlich verstand sie.
„Drago hat dich geschickt!“, fauchte sie Aura an.
Die Mädchen sahen sich fest in die Augen.
Schließlich sagte Aura aufgewühlt: „Ja, das hat er. Und ich tue das nur, um eine gute Freundin zu retten.“ Ihre Stimme versagte für einen Moment. „Ihr Lebensfaden und ihre Liebe zu Tränen führt. Verstehst du jetzt? Diese Zeile der Prophezeiung beginnt, sich zu erfüllen. Ich hätte dich vorher warnen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich dachte, dass sich das mit Neró nicht so stark entwickeln würde. Und jetzt ist es zu spät!“ Aura hatte Tränen in den Augen, die sie hastig wegwischte.
Ein klaffendes Loch öffnete sich in Enyas Innerem. Sie wollte nicht, dass ihre Freundin ihretwegen weinte.
„Ich bin nicht wütend auf dich, Aura. Ich hätte vorsichtiger sein müssen.“ Die nächsten Worte kamen nur schwer über ihre Lippen. „Ich werde mich von nun an von Neró fernhalten.“
Aber warum fühlt es sich dann nicht richtig an?