Kapitel 15

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis


„Urikudi! Mahamaschad!“, weckte Plum pünktlich um vier Uhr fünfzehn die Hüterin des Feuers.
Doch diesen Morgen nörgelte Enya nicht herum und stand sofort auf. Sie musste an die Auseinandersetzung am gestrigen Abend denken. Auch wenn es abgrundtief wehtat, wollte sie Auras Warnung nicht ignorieren.
Nachdem Plum gegangen war, weckte sie ihre Freundin mit einem mulmigen Gefühl auf. Zwar wusste sie jetzt, dass Aura sie nur zu ihrem Besten gebeten hatte, Abstand zu Neró zu bewahren, doch sie blieb trotzdem misstrauisch. Sie konnte sich nur zu gut erinnern, wie gehässig die Hüterin der Luft war, als sie sich kennengelernt hatten.
Unten angekommen, gab es ein großes Frühstück. Wie beim letzten Mal fragte sie sich, woher der steinerne Tisch so schnell aufgetaucht war.
Und wie schafft es Plum eigentlich, ohne Arme und Hände zu kochen? Kocht er etwa mit den Füßen?
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Es gab einfach zu viele Fragen.
Sie sah in den Himmel, der nichts als eine schwarze Szenerie offenbarte.
Da fing sie Nerós Blick auf. Tief in ihrem Inneren wollte sie ihn erwidern. Hör auf. Das geht nicht. Schnell schaute sie weg.
Als sie aufgegessen hatten, kam Drago dazu. Ohne jegliche Abschweife verkündete er: „Guten Morgen, alle miteinander. Ich wollte euch nur daran erinnern, dass ich heute beginne, das zu lehren, was Dragosia ausmacht. Das heißt, es werden keine Pausen eingehalten.“ Er schaute schmunzelnd in die Runde. „Heute werdet ihr Durchhaltevermögen und Kondition beweisen sowie fleißig arbeiten müssen, um nicht vor die Tür gesetzt zu werden.“
Enya verdrehte die Augen.
Findet er das wirklich lustig?
Kurzerhand sammelte Drago die Auserwählten zusammen und scheuchte sie mit sich in den Wald. Plum blieb zurück, um das Geschirr abzuräumen.
„Also“, dröhnte die laute Stimme des Drachen. „Beginnen wir mit Bogenschießen.“
Wie aus dem Nichts thronte von einem Moment auf den nächsten ein funkelnagelneuer Bogen in seinen Klauen. Das polierte Holz glitzerte geradezu. Er überreichte ihn Jordan.
„Äh… was soll ich jetzt damit machen?“, fragte der Hüter der Erde unsicher.
„Was wohl? Schießen natürlich“, erwiderte Drago verächtlich. Er warf ihm einen ledernen Köcher mit Pfeilen zu und erklärte gelassen: „Aber bitte erst einmal ohne die Pfeile. Man benutzt sie lediglich bei wirklich brenzligen Situationen.“
„Wie soll ich denn ohne Pfeile schießen?“, fragte Jordan verwirrt.
„Bei einem Dragasischen Bogen funktioniert es so: Du spannst die Sehne mit einem Finger, musst dich in den Bogen hineinversetzen, musst dir den Verlauf bildlich vorstellen. Dann schießt du ab. Der Pfeil kommt dann ganz von allein. Diese Übung wird euch lehren, die Realität mit der Welt der Gedanken zu verknüpfen.“
Jordan stellte sich aufrecht hin, schloss die Augen und spannte die Arme um den geschwungenen Bogen an. Einige Sekunden verharrte er in der Pose. Dann neigte sich die Sehne leicht, und die Luft teilte sich mit einem Zischen. Jedoch ohne Pfeil.
„Du musst dir den Pfeil genauer vorstellen“, riet ihm Enya, die genau zugesehen hatte.
Der Drache betrachtete sie. „Versuch du es doch mal“, meinte er und zog die Augenbrauen zusammen.
Enya schluckte. Zögerlich nahm sie die Waffe entgegen. Sie war überraschend leicht. Sie schulterte den Köcher und machte ebenfalls die Augen zu.
Mit der linken Hand umschloss sie den glatten Griffstück des Bogens aus kühlem, poliertem Holz, der gut und balanciert in der Hand lag. Sie richtete den Bogen nach oben. Die Finger der rechten Hand setzten an der Sehne an und zogen an ihrem Gesicht vorbei; sie spürte das leichte Material an ihrer Wange. So detailliert wie möglich dachte sie an den Augenblick, bei dem der Pfeil sich von seinem Begleiter löste. Das Bild wurde schärfer und schärfer. Ihre Arme waren noch angespannt, jeder Muskel schien mitzuarbeiten. Trotz geschlossener Augen wusste sie, dass sich vor ihr eine Biene befand. Sie wartete, bis sie vorbeigeflogen war, konzentrierte sich wieder, und die Finger ließen ruhig los. Und etwas wurde abgeschossen.
PEEEEEEEEEENG!
Ein Luftzug streifte ihre Wange. Sie machte die Augen auf. Der Pfeil war tatsächlich erschienen, und er zog einen langen Feuerschweif hinter sich her. Ohne das leiseste Geräusch landete er in einem Baum. Die Rinde rauchte etwas, doch nach kurzer Zeit kühlte sie ab.
Jordan, Neró und Aura fiel die Kinnlade herunter.
„Ich würde sagen, du hast dein Talent im Bogenschießen entdeckt. Eine bessere Waffe für dich gibt es gar nicht“, lobte Drago anerkennend.
Enya betrachtete den Bogen. Sie überreichte ihn dem Drachen, doch dieser wich überraschenderweise zurück.
„Behalte ihn“, riet er, „und wenn ich Du wäre, würde ich ihm einen Namen geben. Dieser Bogen trägt noch keinen. Es bringt Glück, seine Waffe zu taufen.“
Enya ließ die Waffe von einer zur anderen Hand gleiten.
Sie erinnerte sich daran, dass Drago Aura zu ihr geschickt hatte, um sie von Nero fernzuhalten. Plötzlich traf sie eine Erkenntnis. Ihr wurde auf einmal eiskalt.
Amariter ist nicht mein einziger Feind.
Ihr fiel nur ein einziger Name ein. „Ich werde ihn Neró nennen“, verkündete sie.
Zum zweiten Mal an diesem Tag blieb dem Hüter des Wassers der Mund offen stehen.
Wut braute sich in Dragos Augen zusammen, als er knurrte: „Nein. Nimm einen anderen Namen.“
„Es ist meine Entscheidung“, fauchte die Hüterin des Feuers.
Drago hob unheilvoll eine Kralle und richtete sie gen Himmel: „Willst du dich mir etwa widersetzen?“
Enyas Stimme überschlug sich beinahe, als sie antwortete: „Ich bin lediglich nicht deiner Meinung! Wenn du denkst, ich widersetze mich dir, dann soll es so sein.“
„In Ordnung. Doch für dein Verhalten wirst du eine Strafe erhalten, da kannst du dir sicher sein!“
Entsetzen machte sich in ihr breit. Zu was ist er wohl fähig?, fragte sie sich unsicher. Doch sie hätte nie gewusst, was als nächstes geschehen würde.
Er schnippte mit der erhobenen Klaue.
Der Erdboden bebte, und Aura, die sich bis jetzt zurückgehalten hatte, schrie auf.
Ein gewaltiges Rumpeln kam aus dem Erdinneren, und ein Riss von etwa zehn Metern Breite tat sich zwischen Enya und ihren Freunden im Boden auf. Die Vögel, die bis zu diesem Zeitpunkt fröhlich in den Bäumen gezwitschert hatten, flogen aufgeschreckt auf. Enya, die an der Kante stand und fast in die Tiefe fiel, taumelte erschrocken zurück und stolperte in einen Brombeerstrauch. Strauchelnd befreite sie sich aus dem Gewirr aus Ästen und betrachtete zögerlich und mit eingehaltenem Sicherheitsabstand den Graben, der endlos tief zu sein schien und mit lauernder Finsternis gefüllt war. Auch seine Länge war unrealistisch ausgedehnt. Als die Hüterin des Feuers nach links und rechts blickte, konnte sie nicht das Ende des Grabens ausmachen. Er schien schier unendlich lang zu sein.
Mit einem Mal verstand Enya, dass sie auf sich allein gestellt war. Sie schaute auf die andere Seite.
Aura kreischte hysterisch: „Das kannst du nicht machen! Hol sie zurück!“ Nerò, der neben Aura stand, hielt sie mit einem Arm zurück und ließ Drago nicht aus den Augen. Als dieser nicht reagierte, schrie Aura erneut: „Was soll das? Bring sie zurück!“
Der Drache wandte sich mit kalten Augen Aura zu.
„Du hast mir nichts vorzuschreiben. Wir gehen weiter. Allein. Enya hat ihre eigenen Konsequenzen zu tragen. Was sie getan hat, erforderte eine Strafe.“
Die Hüterin der Luft machte den Mund auf, um zu protestieren. Doch Enya, von einer plötzlichen Ruhe erfasst, schüttelte kaum merklich den Kopf. Nerò nickte zurück, und auch Aura verstand und nickte traurig.
Enya verfolgte mit ihren Augen die Gesellschaft auf der anderen Seite der Schlucht, die sich langsam, aber sicher, entfernte. Eine hohle Leere breitete sich in ihr aus.
Neró sah zurück, sein Blick war durchdringend und fest. Bedauern lag in seinen Augen, aber auch Angst.
Enya schluckte schwer.
Sie fühlte sich einsamer denn je. Das Einzige, das ihr geblieben war, war ein Bogen. Ein Bogen namens Neró, dessen Name ihr die Verbannung beschert hatte.

Fortsetzung folgt