Kapitel 13

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

„Na toll. Super.“ Enya versuchte glücklich zu klingen, als sie wuchs und annähernd die Größe von Drago annahm. Ihre Arme und Beine wurden zudem länger, ihr Hals ebenfalls- aber wohlfühlen tat sie sich dabei nicht. Die Schuppen wurden heller und funkelten schließlich wie Feuer.
Sie war jetzt vielleicht zehnmal so groß wie ihre menschlichen Freunde, die bewundernd zu ihr aufsahen.
Sie wollte fragen, was sie jetzt machen sollte, doch sie verstummte, als sie ihre Stimme hörte, die jetzt viel lauter und rauer war.
Sie riss sich zusammen und flüsterte unentschlossen: „Was soll ich jetzt machen?“
„Wir gehen am besten zu Drago und fragen ihn um Rat“, antwortete Aura schulterzuckend.
Enya nickte. Auf einmal fiel ihr auf, dass sie jetzt viel besser hören und sehen konnte. Das Gezwitscher der Vögel war klarer und deutlicher zu hören; sie konnte verstehen, was sie sich einander zuriefen. Außerdem schien es mehr Farbtöne zu geben. Ihr fiel Nerós Haar ins Auge, das sie fälschlicherweise für ein reines Schwarz gehalten hatte. In Wirklichkeit besaß es seltsamerweise einen leichten Blaustich.
Da fing Aura plötzlich an zu lachen und brachte unter Lachtränen hervor: „Ich glaube, ich nehme gleich deine Anziehsachen mit- bevor du nach der zweiten Verwandlung nackt als Mensch dastehst!“
Ups. Mit einem Male schoss ihr die Röte ins Gesicht. Hätte sie keine Schuppen im Gesicht, wäre Enya nun rot wie eine überreife Tomate geworden.
Ihr Blick streifte über den Boden und blieb an ihrer Jeans und ihrem T-Shirt hängen. Und darunter, zum Glück nicht sichtbar, ihre Unterwäsche.
Enya nickte zustimmend, und sie war sich sicher, dass man trotz ihrer dichten Drachenhaut ihre unnatürliche Gesichtsfarbe nicht übersehen konnte.
Aura schien die Unruhe ihrer Freundin zu bemerken, denn kurzerhand sammelte sie ihre Kleidung auf, bemühte sich, die Unterwäsche zu verbergen, und stopfte anschließend die Kleider in ihre Umhängetasche, die sie immer bei sich trug.
Ein Grinsen konnte sich die Hüterin der Luft dabei nicht verkneifen, aber Enya nahm ihr das nicht übel.
Als sie schließlich weiterliefen, sagte Peach versöhnlich: „Mach dir keine Sorgen, Enya. Die Schuppen wirken wie ein Anzug. Du brauchst dich nicht nackt zu fühlen.“
Das fand die Hüterin des Feuers zwar etwas peinlich, aber sie nickte trotzdem dankbar. Sie nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Neró in den immer näherkommenden Wald schaute, als ob er nichts von dem Gespräch mit den Anziehsachen mitbekommen hätte. Nach genauem Hinsehen fiel ihr jedoch auf, dass auch er eine etwas rötliche Gesichtsfarbe besaß.
Sie wanderten weiter, und bald schon befanden sie sich wieder im Schutz der Bäume.
Enya atmete tief ein. Sie sog den Duft des Waldes ein, hörte die Rufe der Vögel und fühlte sich sofort geborgen. Als sie an einer Kiefer vorbeigingen, atmete sie den Geruch der Kiefernnadeln ein, süß und heimatlich. Sie lauschte dem Knirschen der Blätter, das nun viel detaillierter zu hören war, und sah eine Libelle, die im Wald umherflog. Enya konnte die feinen weißen Streifen auf ihrem Körper und ihren zarten Flügeln erkennen. Als Mensch wäre ihr das nie aufgefallen.
Die violetten Blätter der heimischen Bäume in Dragosia reflektierten das Sonnenlicht und malten helle Flecken auf die Erde.
Ich muss Drago unbedingt fragen, was das für Bäume sind. In unserer Welt gibt es sie jedenfalls nicht.
Sie rief sich ins Gedächtnis, wie seltsam ihr die Artenvielfalt bei ihrer Ankunft in Dragosia vorgekommen war.
Beinahe gleichzeitig verspürte sie jedoch einen Stich im Bauch, als sie an die Welt der Menschen dachte, an ihr Zuhause und an ihre Familie. Dann ließ sie sich die unerfreulichen Bekanntschaften durch den Kopf gehen, die sie mit einigen Menschen machen musste. Sie erinnerte sich nur ungern an Tom und seine Truppe, die ihr das Leben bis zur sechsten Klasse zur Hölle gemacht hatten, und ihre ‚Freundinnen‘, die in Wirklichkeit an Gehässigkeit nicht zu überbieten waren. Und nach der Grundschule war es nicht besser geworden. Enya schloss die Augen und vertrieb die trüben Gedanken.
„Ist das Plum?“, riss sie auf einmal Peach‘ Stimme aus ihren Gedanken. Enya blinzelte sich in die Wirklichkeit zurück und war überrascht, als sie merkte, dass sie an Dragos Lichtung angekommen waren.
An meinem Zuhause. Enya lächelte.
Dann erblickte sie Plum, der mit offenem Mund dastand, und realisierte Peach‘ Frage.
„Ja, das ist er“, antwortete sie schmunzelnd.
Freudig beobachtete sie, wie die beiden Fellkugeln vorsichtig ihre Nasen aneinander stupsten und rieben.
„Sie können sich nicht umarmen“, flüsterte Aura Enya zu, „sie haben schließlich keine Arme. Vielleicht ist das ihre Art, sich zu begrüßen.“
Enya nickte. Das klang einleuchtend.
Sie beobachtete, wie die Wächter der Gesetze gemeinsam in den Wald liefen. Hätten sie Hände gehabt, wären sie vermutlich Hand in Hand gelaufen.
Dann drehte sich Plum plötzlich um und rief über die Schulter: „Danke, Enya! Das werde ich dir nie vergessen, niemals!“
Kurz darauf raschelten nur noch die Farne hinter den beiden und wiesen darauf hin, dass dort die beiden Fellbälle entlanggelaufen waren.
Enya wurde sich bewusst, dass sie noch immer die Gestalt eines Drachen hatte.
Wann kann ich endlich wieder ein Mensch sein?, dachte sie nervös. Der Drachenkörper war zwar nicht unangenehm, aber die Gestalt eines Menschen war ihr trotzdem lieber.
„Wo wart ihr?“, hörten sie da auf einmal eine Stimme hinter ihnen. Und dann ein erfreuter Ausruf: „Aura ist zurück!“
Jordan ging auf Enya und ihre Freunde zu und runzelte die Stirn: „Wer ist dieser Drache?“ Er zögerte und fragte verwirrt: „Und wo ist Enya?“
Die Freunde hörten praktisch, wie es in seinem Gehirn ratterte, als er zerstreut schlussfolgerte: „Sagt mir nicht, dass sie dieses riesige Reptil ist!“
Neró lachte nervös. „Ich glaube, es ist besser, wenn du die ganze Geschichte hörst. Und um die restlichen Fragen zu beantworten: Ja, das ist Enya!“
Zusammen erzählten sie Jordan ihr Abenteuer. Als Drago dazu stieß, waren sie nicht überrascht; sie verstanden allmählich, dass sich Drachen trotz ihres massigen Körpers geräuschlos anschleichen konnten und alles, aber auch alles, erfassten und wahrnahmen, sei es aus einer Entfernung von zehn Metern oder gar einem Kilometer.
„Das habt ihr wirklich gut gemacht, Enya und Neró. Schön, dass du wieder da bist, Aura. Und Jordan: Du brauchst dich nicht ausgeschlossen zu fühlen. Du wirst auch noch gute Arbeit leisten, da bin ich mir sicher“, sagte Drago, als sie zu Ende erzählt hatten.
Dann wandte er sich vollends der Hüterin des Feuers zu. „Enya, es überrascht mich wirklich, dass du schon so weit bist. Ehrlich gesagt habe ich mich mit der Zeit bis zur ersten Verwandlung sehr verschätzt. Ich habe gedacht, es würde noch mindestens einen Monat dauern.“
Er bedachte sie traurig, und Enya blickte verunsichert zurück.
Warum sieht er so unglücklich aus, wenn er mich lobt?, fragte sie sich mit einem mulmigen Gefühl.
Er schnippte ohne ein weiteres Wort mit den Fingern, und Enya begann sich zurück zu verwandeln. Ihr wurde etwas übel, aber es ging ihr um einiges besser als bei der ersten Verwandlung. Ihre Glieder fühlten sich an, als würden sie zusammengepresst werden, ehe der Schmerz nach einigen Sekunden verflog. Langsam gingen die Schuppen zurück und hinterließen reine Haut. Als sie an sich heruntersah, merkte sie erleichtert, dass sie ihre Anziehsachen auf wundersame Weise wieder trug.
Aura schaute verwundert in ihre nun leichtere Umhängetasche.
„Ich glaube“, sagte da Drago aus heiterem Himmel, „wir sollten mit der Zeremonie beginnen.“ Er zog ein nachdenkliches Gesicht und nickte zustimmend.
Enya wechselte einen verwunderten Blick mit Aura. „Verzeihung“, sagte diese, „aber welche Zeremonie?“
Drago schien sie nicht gehört zu haben. Unbekümmert fuhr er fort: „Und ich würde euch raten, euch hübsch zuzurichten: Bei der Zeremonie werdet ihr eure Elemente erhalten. Dieser Augenblick wird nicht so leicht in Vergessenheit geraten, und er soll als eine schöne Erinnerung in euren Köpfen verbleiben.“
Das ließen sich die Jugendlichen nicht zweimal sagen. Schnell wie der Wind verzogen sie sich in ihre Hütten.


„Ich bin gleich wieder da“, meinte Aura, als sie und Enya oben in ihrer Hütte angekommen waren und die Hüterin des Feuers ihrer Freundin alles gezeigt hatte.
„Wow!“, hatte Aura mit großen Augen gemurmelt, als sie das erste Mal in der Hütte war; sie war schier fasziniert von den Möbeln und der Einrichtung. Auch Enya musste wieder einmal zugeben, wie viel Mühe sich Jordan und Neró gegeben hatten.
Nachdem sie alles gesehen hatte, verzog sich Aura ins Bad. Sie hatte sich schließlich in Amariters Palast nicht waschen können und musste über eine längere Zeitspanne in einem verstaubten, mit Spinnweben bedeckten Raum ausharren.
Enya probierte währenddessen den magischen Holz-Fernseher aus und sah sich die Hütte genauer an, bis Aura nach einer Stunde wieder herauskam. Sie staunte, als sie Aura erblickte.
Die Hüterin der Luft hatte sich die Zähne geputzt und geduscht. Ihre glatten, dicken Haare waren frisch gekämmt, aber leuchtend hellblond, was Enyas Meinung nach viel natürlicher aussah. Sie trug ein rotes Seidenkleid. Ihre ungeschminkten hellblauen Augen strahlten.
„Super!“, brachte Enya hervor. „Deine Haare sind…“
„blond?“, schlug Aura vor. Sie lachte: „Die Farben halten nicht wirklich lange. Ich habe meine Haare in der Menschenwelt jede Woche getönt!“
„Das brauchst du gar nicht“, sagte Enya verblüfft, „so sehen sie viel besser aus!“ Dann ließ sie eine Pause und fragte: „Wo hast du eigentlich das Kleid her?“
Aura grinste, als sie schulterzuckend antwortete: „Im Badezimmer steht ein begehbarer Schrank mit zwei Abteilungen: Eine mit Kleidung für mich und eine für dich. Es sind wirklich die richtigen Größen! Und du wirst es nicht glauben, aber da ist sehr viel Zeug drin- das musst du dir unbedingt selbst anschauen. Die gebrauchte Wäsche tust du einfach in die Wäschetruhe. Wir müssen Drago fragen, wann wir sie waschen können.“ Sie verzog das Gesicht. „Hier gibt es schließlich keine Waschmaschine.“
Enya freute sich, dass Aura alles im Griff hatte. Sie ähnelte sehr ihrer Schwester. Wenn sie jetzt an Viola dachte, wurde ihr ganz eng ums Herz.
Ich werde sie nie wiedersehen.
Sie schüttelte die düsteren Gedanken ab und ging ins Bad. Wie Aura putzte sie sich die Zähne und duschte. Sie fand eine Flasche Naturparfüm, sprühte es sich hinter die Ohren und hustete. Dann wühlte sie in ihrer Abteilung im Schrank und fand eine Jeans und ein orangefarbenes T-Shirt, auf dem in großen Buchstaben Flammen sind heiß stand. Eigentlich gefiel ihr der Spruch überhaupt nicht, aber sie hatte keine Lust, länger nach etwas Besserem zu wühlen.
Als sie schließlich hinaustrat, konnte sich Aura nicht einkriegen vor Lachen. „Du solltest dich doch hübsch machen“, brachte sie unter lautem Prusten hervor, „und dich nicht normal anziehen!“
Enya schnitt eine Grimasse. Sie mochte Kleider nicht besonders.
Doch Aura schob sie unerbittlich wieder ins Badezimmer zurück und begann eigenhändig, nach etwas Besserem zu suchen.
Nach kurzer Zeit stand sie mit einem smaragdgrünen Paillettenkleid vor Enya.

Die Hüterin des Feuers schüttelte sofort den Kopf: „Oh nein. Aura, das werde ich nicht anziehen! Darauf kannst du dich verlassen.“
Aura starrte sie aus schmalen Augenschlitzen an. „Das passt doch perfekt zu dir!“, meinte sie und betrachtete die Hüterin des Feuers von Kopf bis Fuß. „Das leuchtet mit deinen Augen um die Wette!“
Enya hielt nicht viel von Mode. Mürrisch nahm sie das Kleid entgegen, schloss die Badezimmertür hinter sich, riskierte lieber keinen Blick in den Spiegel und kam umgezogen fünf Minuten später wieder heraus.
„Super!“, schmeichelte Aura. „Du wirst sehen, dass die Jungs begeistert sein werden!“ Und genau darauf hatte Enya keine große Lust.
Sie meint es also wirklich ernst. Enya verdrehte die Augen. Sie würde es nur dieses eine Mal tun, für die Zeremonie und um Auras Willen.
Nacheinander kletterten die beiden Freundinnen vorsichtig und etwas umständlich den Baum hinunter und trafen mit Drago, Neró und Jordan zusammen.
Die Jungs hatten sich maßgeschneiderte Anzüge angezogen, was Enya etwas übertrieben fand, aber sie hielt den Mund. Wenigstens haben sie keine Krawatten an.
Doch bevor Drago beginnen konnte, sagte die Hüterin des Feuers schnell: „Wartet! Ich habe noch eine Menge Fragen!“
Die anderen starrten sie an, aber das war ihr egal. Sie hatte ein Recht auf Antworten. Als Neró sie aufmunternd ansah, ließ sie ihren Fragen freien Lauf: „Die Tiere meinten heute Morgen, sie würden spüren, dass ich Dragosia besitze. Und eine Amsel hat sich damit verabschiedet, dass sie sagte: ‚Mögest du von Entarna geleitet werden, auf dass sich deine Mission erfüllt‘. Was soll das alles bedeuten?“
Drago ließ sich Zeit mit der Antwort und überlegte, bevor er erwiderte: „Tja. Das Wort Dragosia hat viele Bedeutungen. Eine davon beschreibt das Reich selbst, so wie ihr es kennt. Dragosia lässt sich aber auch mit Charakterstärke übersetzen. Und die dritte Bedeutung werdet ihr mit der Zeit erlernen.“ Er warf Enya einen Blick zu.
„Kommen wir zu Entarna. In eurem Sprachgebrauch existiert Entarna auch, und zwar in allerhand erdenklichen Versionen. Alle Bewohner aus Dragosia glauben an Entarna. Bei uns gibt es aber keine Kirchen, Synagogen, Moscheen oder andere Gotteshäuser. Entarna steht nicht im Gegensatz zu den Weltreligionen, sondern ergänzt und verknüpft sie vielmehr.
Unserer Meinung nach gibt Entarna den Lauf der Natur vor, ist die treibende Kraft der Natur und der Existenz selbst. Entarna schreitet nicht ein, um uns in schwierigen Situationen aktiv zu helfen, sondern wacht über uns und gibt uns das Gefühl von Geborgenheit, wenn wir es brauchen, auf dass wir unsere Entscheidungen selbst und aus eigener Kraft treffen. Das ist der Lauf des Lebens, ein Privileg und Geschenk.“ Er warf Enya erneut einen Blick zu, der diesmal sehr dunkel war. „Und Entarna weiß genau, wann ein Leben beginnt und wann es sein Ende findet.“
„In Ordnung.“ Enya gab sich unbeeindruckt, doch in Wirklichkeit hatte sie ein dumpfes Gefühl, weil Drago ausgerechnet sie beim letzten Satz angeschaut hatte, und das auf äußerst eigentümliche Weise.
Sie gab sich einen Ruck, räusperte sich, holte tief Luft und fragte mit zitternder Stimme: „Und was hat es mit der Prophezeiung auf sich? Mit meiner Prophezeiung?“
Mit einem Mal verfinsterte sich der Blick des Drachen weiter. Er seufzte. „Das war nur eine Frage der Zeit, bis diese Frage kommt. Alle Bewohner von Dragosia kennen die Prophezeiung. Willst du sie wirklich wissen? Ich sehe keinen Vorteil darin, wenn du sie hörst. Aber ich kann sie dir auch nicht ewig vorenthalten.“
Beim Ton seiner Stimme zuckte Enya zusammen. Sie schluckte, bevor sie zitternd erwiderte: „Ja.“
„Das habe ich erwartet.“ Er hörte sich keinesfalls begeistert an. Dann rief er mit donnernder Stimme in den Wald: „Plum! Wächter der Gesetze, du wirst benötigt!“
Einige Herzschläge später erschien der Fellball mit seiner neuen Freundin.
Als er die grimmige Miene seines Vorgesetzten bemerkte, fragte er trocken: „Die Prophezeiung?“
Drago nickte.
Plum schloss die Augen, und im nächsten Moment erschien eine Schriftrolle aus brüchigem, vergilbtem Papier mit seltsamen Zeichen vor seinen Füßen.
Drago hob sie auf. Dann machte er eine wegwerfende Bewegung mit seiner Klaue und sagte: „Du bist für den Moment entlassen. Ich werde dich erneut rufen, sobald ich sie vorgelesen habe.“
Doch Plum fragte weiter: „Kann ich nicht bleiben, Euer Majestät?“
„Nein! Geh, Plum! Sofort!“, erwiderte Drago drohend. Seine Flügel spannten sich auf und er ließ blitzende Krallen und Zähne zeigen.
Enya musste trotz der angespannten Situation lächeln. Das kenne ich doch. Als die Hüterin des Feuers aber dem Drachen zum ersten Mal begegnet war, hatte sie es weitaus lustiger gefunden. Nun waren ihre Gedanken betrübt. Sie wollte endlich wissen, wie die Prophezeiung lautete. Besonders aufmunternd schien sie aufgrund all der düsteren Anspielungen nicht zu sein.
Peach warf ihrem neuen Gefährten nun ebenfalls einen eindeutigen Blick zu. Na los. Gehen wir, sollte das heißen.
Er nickte stumm zurück. Zusammen gingen die beiden Wächter der Gesetze in den Wald.
„Das wäre geklärt“, befand Drago. Entschuldigend murmelte er den anderen zu: „Er ist jetzt schon eine ~wirkliche~ Ewigkeit bei mir eingestellt. Er bewacht die Gesetze und Prophezeiungen sehr zuverlässig in seinem Kopf, und er zaubert sie nur daraus hervor, wenn ich danach frage. Aber manchmal kann er ganz schön starrköpfig sein.“
Jordan und Aura schauten den Fabelwesen im Wald amüsiert zu, wie sie mit den Schatten verschmolzen. Neró starrte Enya an. Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen jedoch nicht deuten.
„Hör zu“, ertönte da Dragos Stimme, „und erfahre dein Schicksal.“ Es klang etwas dick aufgetragen, wie Enya fand. Drago nahm die Schriftrolle zwischen seine Krallen.
Die Vögel schienen zu verstummen und die Grillen beendeten ihr zirpendes Konzert. Die Brise, die die Blätter zum Rascheln gebracht hatte, wich einer beunruhigenden Windstille, und die von der Dämmerung rosa gefärbten Wolken erstarrten, obwohl der Wind sie zuvor bewegt hatte.
Da fing der edle Drache auch schon an, vorzulesen:
„Aus der Welt der Menschen wird sie kommen
Nicht gefürchtet und nicht geachtet
In einer neuen Welt wird sie angenommen
Das Feuer des Zusammenhalts und des Muts sie entfachtet
Ihr Lebensfaden und ihre Liebe zu Tränen führt
Das Wahrzeichen Dragosias wird sie tragen
Beim ersten und letzten Kampf alles Verlorene spürt
Sollte sie ihre letzten Atemzüge wagen.“

Enya bildete sich ein, dass ihr Herz stehenblieb, und hielt erschrocken die Luft an. Sie verstand sofort, warum Drago ihr die Prophezeiung zuerst nicht verraten wollte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Die kleinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf und waren wie elektrisiert.
Sie schaute Drago an. Sie wollte sich vergewissern. Und deshalb fragte sie flüsternd, weil ihre Stimme zu versagen drohte: „Wie viel Zeit habe ich noch? Wie viel Zeit habe ich noch, bis ich sterbe?“

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