Kapitel 12

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

„Ich fasse es nicht! Diese Peach sah genauso aus wie Plum!“, wunderte sich Neró.
Enya verdrehte die Augen: „Sie sind ja auch dieselbe Spezies.“ Ein Seufzen entfuhr ihr, als sie leise hinzufügte: „Typisch Jungs, würde ich mal sagen. Große Klappe, aber überhaupt kein Durchblick.“
„He!“ Neró wurde wieder etwas ernster. „Das war sehr schön, was du Peach gesagt hast.“
Enya schaute weg. „Danke.“
Wieder schweigend, suchten sie den Gang nach der richtigen Tür ab, die sie zu Aura führen sollte.
„Da können wir gleich die Nadel im Heuhaufen suchen“, grummelte Neró.
„Natürlich!“ Enya schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Suche den Boden nach einem Button ab. Und beeile dich. Höchstwahrscheinlich bekommen wir dank Peach bald Gesellschaft.“
Doch die Situation schien aussichtslos. Es gab Rattenkot, Holzspäne und Spinnweben, aber kein einziges Button.
Bis der Hüter des Wassers plötzlich den Atem anhielt.
„Ich habe ihn!“, rief er erleichtert.
Rasch eilte sie zu ihm, und tatsächlich, er lag vor einer abgeblätterten Tür, die schief in den Angeln hing und die sie noch nicht geöffnet hatten. Behutsam hob Enya den kleinen Gegenstand auf.
„Auf drei“, raunte Neró. „Eins, zwei und… drei!“ Gemeinsam stießen sie den Zugang zu ihrem möglichen Ziel auf.
Es war der richtige Eingang.
Der kleine Raum war nur schwach von Petroleumlampen beleuchtet. Aura war an einen Pfahl festgebunden, der entfernt an einen Totempfahl erinnerte. Sie war geknebelt. Ihre Haare waren verstrubbelt, und sie hatte Augenringe, als hätte sie die Nacht über nicht geschlafen, was man ihr nicht verleugnen konnte. Eine blutige Spur zog sich über ihre rechte Gesichtshälfte. Erschrocken erkannte Enya, dass diese aus einer Schramme über Auras Augenbraue stammte.
Sofort stürmten die beiden Retter zur Hüterin der Luft und nahmen ihr die Fesseln ab.
Aura schnappte nach Luft und befreite auch ihren Mund. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie schimpfte: „Warum hat das so lange gedauert?“
Enya setzte ein verrutschtes Grinsen auf: „Tut mir leid.“ Sie gab ihrer Freundin den Button zurück und sagte dankbar: „Das war echt hilfreich, dass du es vor der Tür fallen gelassen hast. Wir hätten dich sonst womöglich nicht gefunden.“
Aura winkte ab: „Keine Ursache. Hast du schon mal Herr der Ringe gesehen? Ich habe es mir von diesem Hobbit abgeschaut. Er hatte das Gleiche gemacht wie ich, als er von den Orks entführt wurde. Wie hieß er noch gleich?“
„Pippin?“, schlug Enya vor.
„Bevor ihr noch anfangt, über Legolas zu sprechen, wollte ich nur einmal anmerken, dass wir vielleicht zurückkehren sollten“, setzte Neró trocken an.
„Sei still!“, erwiderten Aura und Enya wie aus einem Mund.
„Gern geschehen“, antwortete der Junge gleichgültig, und dann etwas leiser: „Typisch Mädchen“. Er marschierte zur Tür, und den beiden Mädchen blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
„Das ist zu einfach“, murmelte Enya und sah sich suchend um.
„Kein Wunder“, ertönte hinter ihnen eine Stimme. Als sie sich umdrehten, erkannten sie Peach.
„Ich habe dafür gesorgt, dass ihr freie Bahn habt“, meinte sie; Enya fand, es sah fast aus, als würde sie die Schulter zucken.
An Enya gewandt fügte sie hinzu: „Du hast mich überzeugt, Kind des Feuers.“ Sie schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, und das rote Fell um ihre nun blauen Augen wurde eine Spur heller. „Ich werde mit euch kommen.“
Aura sah die Fellkugel zwar stirnrunzelnd und mit irritiert geöffnetem Mund an, da sie nicht wusste, wer oder was dieses Wesen war und wovon es sprach, aber Enya hatte keine Zeit, es jetzt zu erklären.
Und deshalb sagte sie: „Super. Lasst uns losgehen.“
Sie traten in den leeren Gang und suchten den Ausgang auf. Der Zyklop schaute sie verwundert an, sagte aber nichts.
Als Erklärung verriet Neró nur: „Amariter hat uns geschickt, um diese Verräterin mitzunehmen. Peach soll uns dabei behilflich sein.“ Der Hüter des Wassers nickte bedächtig. „Wir sollen das Menschenmädchen in ihre Welt zurückbringen, damit sie hier nichts mehr anrichten kann.“
Er deutete auf Aura, die ein Wimmern vortäuschte und den Zyklopen bittend ansah, der daraufhin ausweichend in eine andere Richtung schaute. „Dann viel Glück noch“, brummelte er mit tiefer, rauer Stimme. „Oder besser gesagt: Pech, wie es hier Brauch ist.“ Er kicherte ein kehliges Lachen.
Enya und Peach wechselten einen amüsierten Blick, als sie weiterliefen. Das war noch gut ausgegangen.
Die Hüterin des Feuers zeigte Neró ihren nach oben gereckten Daumen und lobte: „Tolle Idee!“
Sie zwängten sich durch die Büsche, und erleichtert erkannten Neró und Enya, dass die Blumenwiese wieder da war.
Peach konnte es nicht fassen, dass etwas so Hübsches existieren konnte. Andauernd murmelte sie „Fantastisch!“ oder „Wundervoll!“. Sie war wirklich hin und weg, und das erfüllte Enya mit Freude.
Als sie zurücksah, erkannte sie, dass Amariters Palast verschwunden war. Stattdessen sah man im Hintergrund nur weitere mit Blumen bewachsene Hügel. Erleichterung durchströmte Enya.
„Amariter und mein ehemaliges Zuhause wandern von Ort zu Ort. Das Schloss ist nicht fest im Boden verankert, sondern verschwindet und taucht an beliebigen anderen Orten wieder auf“, erklärte Peach, die bemerkt hatte, wie ihre neugewonnene Freundin zurückgeblickt hatte.
Enya nickte und kratzte sich an den Handgelenken, die wie verrückt juckten. Als sie genau hinschaute, fiel ihr auf, dass die gereizte Haut spröde, gerötet und ungewöhnlich hart war.
Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und ahmte die Schritte der anderen nach, um nicht zurückzubleiben. Das unerträgliche Jucken ihrer Handgelenke wurde stärker, doch sie ignorierte es.
Eine Welle der Übelkeit zwang sie schließlich dazu, stehen zu bleiben.
Als die anderen registrierten, dass sie zurückgeblieben war, blieben auch sie stehen und bedachten sie besorgt.
„Was ist los?“, fragte Neró.
Enya wurde kurz schwindlig, doch sie hielt mühsam stand und brachte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Nichts. Ist schon gut.“
Peach schüttelte den Kopf. „Das sieht aber gar nicht danach aus.“
Die Hüterin des Feuers versuchte, einige Schritte zu laufen, doch als ihr wieder schwarz vor Augen wurde, rannte Aura zu ihr und stützte sie von der Seite. Neró übernahm die andere Seite, und zusammen schafften sie es, sich auf das Gras zu setzen.
„Ich glaube, das war alles zu viel für mich“, meinte Enya schulterzuckend.
Doch ihre Handgelenke juckten immer stärker.
„Äh…“, stammelte Neró auf einmal. „Da bildet sich etwas an deiner Hand, Enya.“
Tatsächlich. Zum ersten Mal, seit Enya in Dragosia war, überkam sie die Angst. Kupferfarbene Schuppen begannen ihre Haut an den Handgelenken zu bedecken und breiteten sich mit rasender Geschwindigkeit entlang der Arme aus. Schon bald wuchsen sie an ihrem Hals nach oben.
Enya befühlte entsetzt ihre inzwischen mit Schuppen bedeckten Wangen. Sie fühlten sich kühl und glatt an. In ihrem Inneren hingegen schien es zu brodeln. Es fühlte sich an, als würde heißes Wasser durch ihre Adern strömen. Enya fühlte sich plötzlich, als würde jede Pore ihres Körpers schwitzen.
„Kinder, ihr solltet einige Schritte zurücktreten“, sagte Peach mit leuchtenden Augen.
„Hä?“, krächzte Enya. Sie konnte es nicht verhindern, dass ihre Stimme versagte. Seltsamerweise fühlte sich nun auch ihr Hals trocken und gereizt an. Ein unangenehmes Brennen machte sich in ihrem Rachen bemerkbar, und sie fing an, zu husten. Aura schlug ihr auf den Rücken, doch es zeigte keine Wirkung. Aus dem Husten wurde ein Röcheln, und schließlich würgte Enya. Ihr Rachen brannte wie Feuer. Funken stoben auf.
Moment mal: Funken? Die Hüterin des Feuers verspürte blankes Entsetzen, als ihr das Detail auffiel.
Sie versuchte, etwas zu sagen, wurde jedoch jäh durch eine gewaltige Feuerfontäne unterbrochen, die aus ihrem Mund schoss.
Aura, die zum Glück beiseite gesprungen war, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und kreischte: „Enya! Du spuckst Feuer!“
Sie betrachtete ihre Freundin besorgt und mit angsterfüllten, aufgerissenen Augen.
Neró wandte sich an Peach, die seltsam lächelte, und rief durch das Chaos: „Was ist hier los?“
Peach kam auf die Hüterin des Feuers zu und nickte wissend, als sie entgegnete: „Enya, der Augenblick ist gekommen. Du verwandelst dich in einen Drachen.“

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