„Seit wann sprechen Tiere?“, wollte Neró wissen, doch Enyas Blick ruhte auf Amariters Schloss.
„Sieh nach vorn“, meinte sie nur.
Wie Plum gesagt hatte, war es eher eine Ruine als ein Schloss.
Ihnen gegenüber standen mannshohe Büsche. Mit einer Heckenschere hatte man ihnen die Form der Hexe gegeben; es war schier ein Meer aus grünen Amaritern, lebensecht und mit starren Augen.
Direkt dahinter thronte die Ruine auf. Sie war aus braunem Stein, der aussah, als würde er jeden Moment zerbröckeln. Fenster mit zerbrochenen Gläsern gähnten hinter Stahlstangen, die in den Mauerstein eingelassen waren.
Die Fenster sehen aus wie die von Gefängniszellen, dachte Enya angeekelt.
Trotzdem bewunderte sie, wie hoch das verkommene Schloss war. Es war vielleicht dreimal so groß wie die in Dragosia typischen Bäume.
„Wieso haben wir diese riesige Ruine erst jetzt bemerkt? Wir hätten sie doch vom Waldrand aus sehen müssen!“, flüsterte Enya Neró zu.
Doch der Junge war gefesselt.
„Äh, Enya“, raunte er, „ich will ja nicht sagen, dass du die falschen Fragen stellst, aber drehe dich doch bitte einmal um.“
Sie tat wie geheißen und erstarrte auf der Stelle.
Die Wiese war verschwunden. Stattdessen empfing sie tiefe, leere Dunkelheit.
„Was soll das?“, zischte sie aufgebracht.
„Keine Ahnung. Sag mir, Enya: Warum bin ich hergekommen? Könntest du mich bitte wieder erinnern? Ich glaube, ich habe es vergessen.“
„Tja. Wenn ich das wüsste.“
„Gut. Wo ist das nächste Taxi?“
„Neró, hör auf. Erst retten wir Aura, dann sehen wir weiter.“
Ohne sich abzusprechen, zwängten sie sich zu zweit zwischen die Büsche und fanden sich in einem Garten mit merkwürdigen, dunklen Topfpflanzen, einem sehr kurzen Rasen und jeder Menge eigenartiger Statuen wieder.
„Na toll“, brummelte Enya.
Sie liefen geduckt weiter und versteckten sich hinter den Pflanzen und Skulpturen, bis sie einige Meter vor dem Eingang waren.
Vor der Tür stand ein riesiger Mann in schmutziger zerrissener Kleidung, der etwa drei Meter groß war. Die Elementhüter stockten, als sie etwas bemerkten, oder besser gesagt nicht bemerkten: Der Mann war ein Zyklop, der also nur ein Auge hatte. Es prangte auf der Mitte seiner Stirn.
Neró und Enya mussten nur einige Minuten warten, bis eine kleine, verhüllte Gestalt von rechts um die Ecke bog und an der Tür hielt.
Die Hüter der Elemente hielten die Luft an, als die Gestalt leise ein Wort nuschelte: „Kripala-anusch!“
Daraufhin öffnete der Zyklop mit seinem Schlüssel die Pforte und die Gestalt trat ein.
Enya und Neró schoben sich aus ihrem letzten Versteck, einer Statue eines dünnen, verknorpelten Drachen.
Mit schnellen Schritten huschten sie zum Eingang.
„Kripala-anusch!“, verkündete Enya nicht wirklich überzeugt.
Der Zyklop überdachte die Jugendlichen mit einem Blick, der so etwa bedeutete: Ihr schmeckt bestimmt gut zu Toast. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Widerwillig machte er die Tür auf.
Drinnen war es kühl und dunkel, doch der weite Gang wurde von einigen mickrigen Leuchten erhellt und war übersäht mit etlichen, geradezu unendlich vielen Türen. Spinnweben schmückten die graue Decke. Bilder in roten und schwarzen Rahmen hingen an den gemauerten Wänden.
Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.
Enya zog die erste Tür auf, die nach links führte, schaute hinein und machte sie erschrocken sofort wieder zu.
„Was ist?“, fragte Neró.
„Da war ein Ungeheuer!“
Sie liefen weiter. Diesmal öffnete Neró eine Tür, die nach rechts führte. Ein ihnen ziemlich bekanntes Wesen erwartete sie.
„Was haben wir denn da?“, sagte Peach mit geweiteten Augen.
Enya staunte, als sie bemerkte, dass die Wächterin der Gesetze wie Plums Zwillingsschwester aussah. Abgesehen von ihren tiefschwarzen, gefühllosen Augen, dem ungepflegten, grellroten Fell und der Kälte in ihrer Stimme schien sie Plum aus dem Gesicht geschnitten zu sein.
„Ich könnte euch gleich an Amariter verraten. Sagt mir einen guten Grund, warum ich das nicht tun sollte.“
Enya und Neró wechselten einen Blick.
Schließlich ergriff die Hüterin des Feuers das Wort: „Äh… Plum hat mich geschickt, weil… weil er dich hübsch findet.“
Peach‘ Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Er findet mich hübsch?“
„Ja!“ Enya kam in Fahrt und dachte sich kurzerhand einige Aussagen aus: „Er meinte, deine Augen leuchten wie die kühlste und sternenreichste Nacht des Jahres, und dass dein Fell wie frischgemachte Erdbeermarmelade aussieht.“
„Wie romantisch!“ Peach begann zu lächeln. Für einen Moment wurden ihre Augen hellblau. Dann verfärbten sie sich wieder in ihre ursprüngliche Farbe.
„Woher weiß ich, dass du mich nicht anlügst, Kind des Feuers?“, warf sie ein.
„Du musst mir wohl vertrauen“, erwiderte Enya grinsend, aber unbeirrt.
„Selbst, wenn Plum wirklich etwas für mich empfindet- ihr wollt auch eure Freundin befreien, stimmt’s?“, wollte Peach wissen.
Neró und Enya nickten wahrheitsgemäß.
In den Augen der Wächterin der Gesetze lag Bedauern, aber auch Kälte, als sie sagte: „Es tut mir leid. Das hier ist mein Zuhause. Und deshalb muss ich es beschützen. Ich werde Amariter Bescheid sagen.“
Enya ging schnell einen Schritt vorwärts, duckte sich in Höhe der Fellkugel und sah dem Wesen fest in die Augen. „Peach!“, sagte sie eindringlich. „Er mag dich. Er mag dich wirklich. Er möchte mit dir eine Familie gründen. Er möchte dir den Wald zeigen, unsere Heimat. Er möchte dir den Himmel zeigen, in den sternenklarsten Nächten, die du je gesehen hast. Er will mit dir über Wiesen laufen, über Blumenwiesen, die in allen Farben leuchten. Er möchte Zeit mit dir verbringen, dir die Welt zeigen. Hat das je jemand für dich getan, Peach? Hattest du jemals das Gefühl, einen Freund an deiner Seite zu haben, dem du abgrundtief vertrauen kannst? Dem du Geheimnisse erzählen kannst? Bei dem du dich geborgen fühlst? Hast du überhaupt jemals die Welt da draußen gesehen? Ich sage dir: Es ist das Beste, was dir passieren kann. Und mit Plum an deiner Seite- das ist unvorstellbar. Das kannst du dir in deinen kühnsten Träumen nicht ausmalen.“
Dann wandte sich die Hüterin des Feuers an Neró: „Komm. Das reicht. Die Entscheidung liegt bei ihr.“
Der Hüter des Wassers starrte sie an und nickte, und gemeinsam gingen sie zurück auf den Gang und ließen Peach zurück, deren Augen in den hellblausten Tönen des Himmels glänzten.