„Miez, Miez!“, versuchte sich Enya hoffnungsvoll.
Seit etwa einer halben Stunde irrte sie durch den Wald auf der Suche nach einem Tier.
„Toll“, brummelte sie enttäuscht, als wieder keine Reaktion kam.
Sie trat nach einem Ast, der einen hohen Bogen beschrieb und glücklicherweise dabei eine kohlschwarze Amsel aufscheuchte. Der Vogel flatterte, ein gellendes Zetern ausstoßend, panisch in die Lüfte, doch Enya schrie laut und deutlich: „HALT!“
Das Tier landete vor ihren Füßen und legte den Kopf schief.
„Was willst du, Menschenmädchen?“, zwitscherte es. Die Amsel hatte eine melodische Stimme, die aufgrund der hohen, lauten Töne etwas gewöhnungsbedürftig klang.
Enya staunte und schaute den Vogel verblüfft an. Sie konnte es nicht verhindern, dass ihre Kinnlade herunterfiel.
Ab sofort musst du dich an den Gedanken gewöhnen, Tiere sprechen zu hören, sagte sie sich und schloss eilig den Mund.
Sie verstand zwar nicht, wie sie den Vogel verstehen konnte, doch wahrscheinlich hing es mit Dragos Zauberkünsten zusammen. Statt sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, schwieg sie, denn es gab momentan weitaus wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern musste.
Währenddessen zuckelte der kleine Kopf mit dem gelben Schnabel und den gelben Augenringen aufgeregt hin und her. „Moment mal: Menschen- und Drachenmädchen!“
Enya starrte die Amsel überrascht an. Woher weiß sie, dass in meinen Adern Drachenblut fließt?
„Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit! Meine Kinder warten auf ihre Mahlzeit“, meinte der Vogel ungeduldig, ohne auf den vorherigen Kommentar einzugehen, und pickte nervös auf den Boden ein.
„Äh…“ Enya schluckte und räusperte sich. „Ich wollte fragen, ob… ob du mir sagen kannst, wo ich Amariters Palast finde.“
„Was willst du denn dort?“
„Nun ja… um genau zu sein, bin ich die Hüterin des Feuers. Drago hat mir diese Gabe übergeben, und meine Freundin, die Hüterin der Luft, wurde von Amariter entführt. Ich bin losgezogen, um sie zu befreien.“
Die Amsel riss die Augen so weit auf, dass Enya Angst hatte, sie würden herausfallen. „Ihr seid die Hüterin des Feuers? Meine Güte!“ Sie fiel auf ihren kleinen Stummelbeinen auf die Knie und stieß einen gellenden Ruf aus. Innerhalb weniger Minuten versammelten sich allerlei Tiere um Enya und fielen ebenfalls auf die Knie.
Rehe, Wildschweine, Mäuse, Ratten, Kaninchen, Hasen, Eichhörnchen, Vögel, Füchse, Igel, Waschbären, Stinktiere und Dachse versammelten sich und gaben den Ruf weiter.
„Ihr braucht nicht vor mir niederzuknien!“, rief Enya. „Ich bin doch nur ein ganz normales Mädchen. Steht auf!“
Langsam erhoben sich die Waldbewohner widerstrebend. Ein Ausdruck lag in ihren Gesichtern, den Enya nicht deuten konnte. War es Stolz? Begeisterung? Sie wusste es nicht.
„Dragosia!“, raunten die Tiere im Chor.
Ach, wirklich?, erwiderte sie sarkastisch in Gedanken. Jetzt verstehe ich wirklich rein gar nichts mehr!
„Was soll das heißen? Ich weiß auch, dass wir uns in Dragosia befinden. Eure Sitten sind mir zwar unbekannt, aber was soll das Ganze mit dem Niederknien und mit dem Schreien?“, wollte sie wissen.
Die Amsel trat vor. In ihren Augen lag so etwas wie Mitgefühl. „Wisst Ihr das denn nicht, Herrin?“, fragte sie. „Kennt Ihr Eure Prophezeiung nicht?“
„Welche Prophezeiung?“
Ein bedrücktes Schweigen breitete sich aus.
Ein alter Waschbär raunte mit brüchiger Stimme: „Dann ist das wohl noch nicht der richtige Zeitpunkt.“
Eine eisige Kälte machte sich in Enya breit. Sie kam sich vor wie auf einer Beerdigung. Alle behandeln mich, als ob sie mich bemitleiden! Es hat irgendetwas mit dieser Prophezeiung auf sich.
Die Amsel raffte sich zusammen. „Kommt, Herrin. Ich werde Euch zum Palast bringen.“
Schweren Herzens folgte sie dem Vogel durch die Menge, die Platz machte, sich jeweils auf der linken und rechten Seite aufstellte und somit eine Gasse bildete. Da fehlt ja nur noch der rote Teppich, dachte Enya ironisch.
Nach einer Weile ließen sie die übrigen Tiere hinter sich.
„Wir sind bald da. Ihr müsst euch nur etwas gedulden“, flötete die Amsel nach einer Weile.
„Du brauchst mich nicht mit Herrin anzusprechen“, stellte die Hüterin des Feuers klar. „Ich finde es wirklich in Ordnung, wenn du mich duzt. Ich heiße Enya.“
„Wenn das so ist…“ Der Vogel plusterte stolz die Nackenfedern auf: „Ich heiße Fidel.“
Die beiden schritten weiter durch den Wald. Als Enya zurückblickte, sah sie erleichtert, dass sich die Tiergesellschaft aufgelöst hatte.
„Ich hoffe, ich bin dieser Aufgabe gewachsen. Ich meine… der Palst ist bestimmt sehr gut bewacht, und ich bin doch erst seit Kurzem hier.“ Sie schüttelte ihren Kopf und eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Genervt pustete sie sie weg.
Fidel begann fröhlich, eine ihr unbekannte Melodie zu pfeifen. „Das schaffst du schon, Enya. Ich bin mir sicher, dass du bereits jede Menge Freunde in Dragosia gefunden hast, die dich unterstützen. Vielleicht mehr, als du erwartest.“ Er nickte aufrichtig.
Enya grinste nun auch. „Vermissen dich deine Küken eigentlich nicht, Fidel? Du hast vorhin gesagt, du müsstest sie füttern.“
„Ach.“ Das Vogelmännchen machte mit dem Flügel eine abstreitende Bewegung. „Meine Gefährtin schafft das schon. Und außerdem tue ich etwas Nützliches.“
„Wenn du meinst.“ Enya zuckte die Schultern.
Der Wald wurde allmählich durch eine weite Blumenwiese abgelöst. Allerlei Blumen bedeckten das hohe Gras, das sich in der leichten Brise bewegte. Es gab Klatschmohn, Kornblumen, Margeriten, Schlüsselblumen, Löwenzahn, Klee und Glockenblumen, deren Köpfe im leichten Wind nickten. Darüber hinaus gab es Blumen, die vermutlich nur in Dragosia existierten und in seltsamen Farbtönen leuchteten. Sie bildeten einen leichten Kontrast zu den gewöhnlichen Blumen, die wiederum dennoch mit den exotischen Blüten zu harmonieren schienen. Es war schier ein Meer aus Farben. Die Sonne beschien die Blumenwiese und verwandelte sie zu einem Spiel aus Licht.
„Hübsch“, murmelte Enya.
„Oh ja.“ Fidel hüpfte aufgeregt hin und her, seine Sprünge wurden auch von einigen Tiefflügen und Loopings unterbrochen.
Zügig stapften sie durch das hüfthohe Gras.
Nach einer Weile meinte der Vogel mit leuchtenden Augen: „Hast du dein Element eigentlich bereits offiziell erhalten?“ Er schien zu überlegen, ehe er hinzufügte: „Also… ich meine, die Zeremonie hat noch nicht stattgefunden, oder?“
„Welche Zeremonie?“
„Das heißt wohl nein.“
Eine kurze Zeit lang sagte niemand etwas, doch schließlich durchbrach Fidel die Stille: „Dann wird es wohl noch ein bisschen dauern, bis du dich in einen Drachen verwandeln kannst.“
„Öhm… Kann schon sein. Auch wenn ich es gar nicht glauben kann.“
Der Vogel blickte sie aufmerksam an. „Trotzdem… ich kann es spüren. Ich verspüre Dragosia. Das taten die anderen Tiere auch. Und der menschliche Teil in dir ist relativ schwach ausgeprägt. Es ist der Drache in dir, der die Oberhand besitzt.“
„Woher weißt du das?“, wollte Enya wissen.
„Wir Tiere nehmen solche Dinge wahr. Wir besitzen eben… nun ja, den sechsten Sinn. So könnte man es ausdrücken. Großes Fingerspitzengefühl.“
Die Hüterin des Feuers schwieg.
Sie schaute in die Ferne und glaubte, den Hügel mit der Statue zu erkennen, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte.
Sie wollte gerade danach fragen, als ein Rascheln hinter ihrem Rücken ertönte.
Die Amsel und das Mädchen fuhren ruckartig herum.
„Neró!“, rief Enya überrascht. „Was machst du denn hier?“
Der Junge grinste und fuhr sich durch die Haare. „Ich konnte dich doch nicht alleinlassen.“
Enya zuckte die Schultern und zeigte auf ihren Begleiter: „Ich bin doch nicht allein.“
„Jawohl!“, fiepte Fidel. Der Hüterin des Feuers fiel auf, dass das Vogelmännchen ungewöhnlich nervös aussah. Es sah von einem Elementhüter zum anderen. Seine Federn waren seltsamerweise aufgeplustert.
„Ich kann auch wieder zurücklaufen.“ Der Hüter des Wassers machte Anstalten, sich umzudrehen und zu gehen.
„Nein!“ Enya zog ihn zwischen sie und die Amsel.
Der Vogel zwitscherte eine Oktave zu hoch, wie Enya fand: „Fein. Dann können wir ja jetzt weiter.“
Stumm wanderten sie durch die Wiesengräser. Immer, wenn sich Neró und Enya streiften, schien die Luft zu knistern.
„Hier ist es viel schöner als in unserer Heimat“, meinte der schwarzhaarige Junge.
Enya sah in den blauen Himmel: „Ja. Es ist hier viel spannender.“
„Dein Leben scheint langweilig gewesen zu sein.“ Er wartete auf eine Antwort, doch es kam keine.
Die Elementhüter blickten zu Boden, und es breitete sich eine Stille aus.
Schließlich lachte Neró traurig, und eine Reihe weißer Zähne kam zum Vorschein. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass jetzt meine Mutter neben meinem kleinen Bruder sitzt und ihm bei den Hausaufgaben hilft.“
Enya blickte ihn unschlüssig an. „Du sehnst dich zurück, nicht wahr?“
Er überlegte. Dann murmelte er, eher für sich: „Es gibt einen guten Grund, wieso ich hier bin.“
Sie fragte sich zwar, welcher Grund ihn in dieser unbekannten Welt hielt, doch sie hielt den Mund fest verschlossen. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, rief sie sich ein Sprichwort ins Gedächtnis, das ihre Mutter oft verwendet hatte. Plötzlich verspürte sie solch ein Heimweh, wie sie es noch nie getan hatte.
Fidels Stimme riss sie aus ihren trübseligen Gedanken: „Wir sind da, Enya. Mögest du von Entarna geleitet werden, auf dass sich deine Mission erfüllt.“
„Wer oder was ist Entarna?“, fragte sie verwirrt.
„Frag das am besten Drago.“
„Okay. Tschüss, Fidel. Danke für das Herbringen.“
„Keine Ursache. Auf Wiedersehen, Enya.“ Und mit diesen Worten flatterte die sympathische Amsel nach oben, ließ sich vom Wind in die Luft tragen und flog zurück in Richtung Wald.