Kapitel 9

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis


Gerade, als Enya und Plum beginnen wollten, ihm alles zu erzählen, hob Drago beschwichtigend die Klauen.
„Das verschieben wir auf morgen“, meinte er.
Enya wollte zwar protestieren, aber er schnitt ihr grinsend das Wort ab: „In deine Zeit umgerechnet ist es bereits 23 Uhr. Das ist nicht die Uhrzeit, in der man noch etwas erreichen kann.“
Was meint er mit deine Zeit?, fragte sich Enya verblüfft.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, bemerkte der Drache: „Das mit der Zeit ist etwas kompliziert. In Dragosia existiert sie nicht.“ Er ignorierte Enyas verwirrten Gesichtsausdruck und fuhr fort: „Morgen beginnen wir mit der ersten Unterrichtseinheit.“
„Was? Aber Aura wurde entführt. Wir können doch nicht ohne sie anfangen!“, widersprach Enya.
Drago wechselte einen Blick mit Plum. Das besprechen wir später, schien er zu lauten.
„Folge mir einfach“, riet er, „Und zwar schweigsam. Totenstill. Komplett geräuschlos. Stillschweigend. Mucksmäuschenstill. Lautlos. Leise-“
„Ich habe es verstanden!“, fauchte Enya.
Kurze Zeit später schlichen sie durch die kalte Nacht. Als die Hüterin des Feuers in den Himmel blickte, erspähte sie unzählige Sterne, die im Dunkel leuchteten. Auch die Pflanzen gaben ein seltsames Licht ab und boten bunte Farbspiele. Als Enya zurückblickte, sah sie, dass ihre Fußspuren einige Sekunden lang ebenfalls flimmerten, ehe sie verblassten.
„Magisch“, murmelte sie.
„Ja“, wisperte Plum, der sie gehört hatte. „In der Nacht verwandelt sich Dragosia in ein Feuerwerk!“
„Psst!“, zischte Drago.
Sie waren angekommen. Enya konnte nicht glauben, was sie da sah:
Neró und Jordan hatten gute Arbeit geleistet. Neben der Lichtung, in der sich Dragos und Plums Höhlen befanden, waren zwei Baumhäuser in die Äste von zwei hohen Bäumen gebaut worden. Sie waren mit einer Decke aus Farnen, Gräsern, Ästen und Moosen zugedeckt, um sie zu tarnen. Sie verlieh ihnen eine Bequemlichkeit, die kein Architekt je anderweitig erzielen könnte.
„Wow…“, brachte Enya hervor. „Und das haben sie ganz allein geschafft?“
„Nun ja.“ Drago schmunzelte. „Ich war ihnen etwas… behilflich. In magischer Weise versteht sich.“
„Und wie kommt man da hoch?“, wollte Enya wissen. Soweit sie sehen konnte, gab es keine Leitern, die in die hübschen, aber leider hohen Wohngemache führten.
„Schon einmal etwas von Klettern gehört?“, bemerkte Plum.
Die Hüterin des Feuers sah an der eingefurchten Rinde empor: „Ich glaube nicht, dass man es mit Klettern fertigbringen kann…“
„Oh doch! Und wenn du die gesamte Nacht damit verbringst- wir werden keine Leitern anbringen! In Dragosia gibt es Ungeheuer, die sind genauso gefährlich wie ich. Ihr wäret das perfekte Fressen für sie. Sie müssten nur die Leiter hochklettern“, erklärte Drago.
Enya seufzte resigniert. Na toll.
„Dann werde ich es versuchen“, sagte sie zähneknirschend, nahm Anlauf und sprang an den Stamm, nur um wieder abzurutschen.
„Du musst den Baum umklammern“, riet Plum, „und dich dann Schritt für Schritt hochziehen.“
Enya sprang erneut an den Stamm, doch diesmal hielt sie sich an den Rillen der Rinde fest. Flink wie ein Affe arbeitete sie sich nach oben. Doch dann beging sie den Fehler, nach unten zu schauen. Warum sehen Plum und Drago so winzig klein aus? Ich kann doch niemals so schnell gewesen sein!
Sie zwang sich, nach oben zu sehen, und erblickte knapp zwei Meter über sich die rettende Holzfläche, auf der eines der Häuschen erbaut worden war. Sie seufzte erleichtert auf.
Es dauerte nicht lange, bis sie sich auf die Holzplatte gezogen hatte und zufrieden an der Türschwelle stand. Jetzt konnte sie auch das Schildchen an der Tür erkennen, auf der mit geschwungener, goldener Schrift stand:
Haus des Feuers und der Luft.
Das muss die richtige Hütte sein, dachte Enya befreit. Sie wollte sich gar nicht ausdenken, was geschehen wäre, wenn sie den falschen Baum gewählt und bei Neró und Jordan an der Tür gestanden hätte.
Sie verabschiedete sich herzhaft gähnend von Plum und Drago und betrat, plötzlich befallen von einer schweren Müdigkeit, das kleine Gebäude.
Es war gemütlich eingerichtet enthielt zwei Zimmer.
Das erste, kleinere trug ebenfalls ein Schildchen, jedoch mit einer anderen Aufschrift. ‚Bad‘ stand sorgfältig auf das Holz geschrieben. Sie öffnete die entsprechende Tür und erblickte ein Badezimmer mit wundervoll geschnitzten, dunklen Holzmöbeln. Selbst die Toilette war aus Holz. Teppiche aus echtem Fell schmückten den Boden.
Lächelnd betrat sie den zweiten, wesentlich größeren Raum: Ein Etagenbett, zwei Nachttische, zwei große Schränke, zwei flauschige Sitzsäcke- vermutlich aus echtem Fell-, ein Schreibtisch mit zwei Stühlen, wieder Fellteppiche und ein großer Holzkasten auf einem Beistelltisch schmückten das geräumige Zimmer.
Soll dieser Holzkasten etwa ein Fernseher sein?
Enya wollte sich nicht darüber den Kopf zerbrechen. Sie war todmüde. Rasch ging sie ins Badezimmer, putzte sich mit der bereitgelegten, hölzernen Zahnbürste aus dem mit ihrem Namen beschrifteten Zahnputzbecher die Zähne und legte sich in das obere Bett.
Es dauerte zwar eine kleine Weile, aber schließlich schlief sie ein. Die fremden Geräusche aus dem Wald ließ sie dabei links liegen. Nicht einmal Wolfsgeheule, Bärengebrülle und das Schreien einer Eule konnte sie davon abhalten.

Urikudi! Mahamaschad!
Enya wurde durch das laute Gemurmel von Plum geweckt.
„Was ist los?“, brabbelte Enya verschlafen.
„Schnell! Aufstehen!“, lautete die Übersetzung.
Die Hüterin des Feuers rieb sich den Schlaf aus den Augen und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
„Aber es ist doch erst viertel nach vier!“, protestierte sie erstaunt.
In Plums Augen lag so etwas wie Mitgefühl: „Ja schon, aber morgens… Morgens ist die perfekte Zeit.“
„Hä?“
„Die perfekte Zeit zum Essen sammeln, um den Tag vorzubereiten, um spazieren zu gehen… Der perfekte Alltag in Dragosia beginnt mit frühem Aufstehen.“
„Super.“
„Wirst dich schon dran gewöhnen. Und übrigens: Drago hat verordnet, dass du nach dem Frühstück Aura befreien wirst.“
„Doppeltes Super.“
„Hör auf, pessimistisch zu denken“, tadelte Plum grinsend.
„Mach ich doch gar nicht. Ich bin total optimistisch.“ Dann runzelte sie die Stirn: „Du hast mir gestern kein Abendessen gemacht!“
Der Fellball versuchte, unschuldig auszusehen, aber in seinem Gesicht lag trotzdem eine Spur von schlechtem Gewissen: „Tut mir leid, Enya. Wirklich. Du hast so müde ausgesehen und ehrlich gesagt… war ich auch müde. Deshalb… mein Bett sah so gemütlich aus…“ Als er ihre nicht wirklich begeisterte Grimasse sah, stotterte er entschuldigend: „Naja… Ich habe ein doppelt so großes Frühstück als Entschädigung vorbereitet. Kommst du?“
„Ja“, brummelte Enya.
Sie ging kurz ins Bad, um mit der ebenfalls bereitgelegten Bürste aus Holz und Stein ihre Haare zu kämmen, was nicht vollständig gelang. Ihre Haare suchten sich nach einer Weile wieder ihren eigenen Weg. Dann kletterte sie, Verwünschungen brummend, den Baum hinunter.
Vögel zwitscherten und flogen durch den orangefarbenen Himmel. Die Sonne war am Aufgehen und warf ihre ersten milchigen Strahlen durch die Baumkronen.
Unten erwartete sie tatsächlich ein prachtvolles Frühstück: Plum hatte auf einem Tisch aus Stein -Enya fragte sich, wo dieser so schnell hergekommen war- drei steinerne Teller mit verschiedenen, selbst zubereiteten Gerichten platziert: Im ersten befand sich ein perfekt gebratenes Spiegelei mit einer Scheibe Brot, die frisch gebacken war; im zweiten wartete Pilzragout, das mit einer weiteren Scheibe Brot angerichtet war; im dritten lagen frischgepflückte  Beeren und Früchte, die Enya noch nie gesehen hatte.
„Danke!“, brachte Enya hervor, und ihr Magen knurrte als Zustimmung. „Das sieht wirklich gut aus.“
„Du wirst die Kraft heute brauchen“, meinte Plum schulterzuckend. Doch sie konnte sehen, dass er über ihr Kompliment lächelte.
Nach einer Viertelstunde hatte Enya alles bis auf den letzten Krümel aufgegessen und spürte, wie der Elan in ihre Muskeln zurückkehrte.
„Du bist ein großartiger Koch“, lobte sie ehrlich.
„Ach, das war ganz einfach. Das Pilzragout bestand aus Knubbelpilzen“, erläuterte das kugelige Wesen. „Wenn du Zeit hast, zeige ich dir, wie man das kocht.“
Enya strahlte. „Großartig!“
Plum blickte sie ermutigend an. „Na gut, Enya. Du musst los.“
„Wo ist denn Amariters Palast?“
„Frage am besten ein Tier um Rat, wen du den Weg nicht weißt. Sie kennen sich am besten aus.“
„Wie bitte?“
„Du musst dich nur höflich und freundlich über den Weg zu Amariters Palast erkundigen. Ist das denn so schwer?“
„Äh… Ich fürchte, nein.“ Enya wurde rot.
„Dann ist ja gut.“ Plum blinzelte ihr aufmunternd zu. Dann machte er sich daran, mit den Füßen den Tisch abzuräumen und das Geschirr auf seinem Kopf balancierend wegzutragen.
Na toll. Enya seufzte. Dann fangen wir mal an, mit Tieren zu sprechen!
Nicht gerade zuversichtlich, setzte sie sich in Bewegung.

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