Kapitel 8

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis


Amariter war fort. Aura war fort. Doch Enya konnte nichts empfinden. Nichts schien mehr bedeutend.
Die Welt um sie herum war ein Spiel aus Farben, Licht und Schatten. Eichhörnchen, Mäuse, Wildschweine und weiteres Getier suchten sich einen Unterschlupf für die Nacht.
Die Sonne ging unter, der Himmel färbte sich orange. Der Mond erschien als hauchdünne Sichel am dunkelwerdenden Himmel und machte den Anschein, als schwebe eine Feder in der Luft.
Ein Schwarm Enten zog über ihr vorüber. Der Wind streichelte ihr Haar wie eine Bürste mit Borsten aus Sommerbrisen.
Sie hockte auf dem Boden und dachte über Amariters Worte nach. Sie konnte es einfach nicht fassen.
Eine Sekunde lang genoss sie noch den Moment, nachzudenken. Dann wanderten ihre Gedanken zu Aura, und sie stand auf.
„Neró! Jord! Wo seid ihr?“, rief sie in den nun düsteren Wald, doch niemand antwortete. „Plum?“, versuchte sie es hoffnungsvoll.
Und tatsächlich, die Farne teilten sich, das flauschige Wesen tauchte aus dem Unterholz auf und kam mit schnellen Schritten auf sie zu.
Als sie ihn erfreut ansah, merkte er nur an: „Du rufst mich, ich komme.“ Dann fügte er hinzu: „Ich habe Ohren wie ein Luchs! Also: Wieso hast du mich gerufen?“
Als er zu diesem Thema kam, wurde Enya kurz schwindlig. Sie setzte sich in das weiche Laub.
„Das ist eine lange Geschichte…“, begann sie und erläuterte anschließend die Ereignisse.
Als sie fertig war, stieß sie laut die Luft aus. „Was glaubst du, wird sie mit Aura anstellen?“
Plum überlegte. Schließlich erwiderte er: „Höchstwahrscheinlich hat sie Aura in ihren Palast gebracht. Das letzte Mal, als sie jemanden entführt hat, hat sie den Gefangenen in einem Käfig gehalten.“ Er verzog das Gesicht, als ob er sich an etwas Schreckliches erinnerte: „Er ist hässlich, der Palast. Nur noch eine Ruine, so alt und heruntergekommen ist er. Innen ist alles mit schwarzen und roten Möbeln aus der Menschenwelt ausgestattet. Das passt gar nicht zu Dragosia. Zu unnatürlich.“
Er ließ eine Pause. „Wenn du Pech hast, musst du dich in Dragos Auftrag zum Palast schleichen und Aura befreien.“
„Na toll“, stöhnte Enya auf.
„Und… wenn du schon dabei bist…“
Enya war es nicht gewöhnt, Plum stottern zu hören. Er wurde etwas rötlich und erzählte weiter: „Also… in Amariters Palast lebt ebenfalls ein Wächter der Gesetze, nur eben eine Wächterin… Sie sieht mir sehr ähnlich, weißt du? Im Gegensatz zu mir hat sie rotes Fell, schwarze Augen- aber wenn man das ignoriert, ist sie doch… sehr hübsch.“ Er räusperte sich. „Ihr Name ist Peach.“
Enya hob eine Augenbraue. Peach? Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Und du willst, dass ich sie auch mitnehme.“
„Das wäre nicht verkehrt. Du müsstest sie aber überreden. Sie ist mehr oder weniger freiwillig dort.“
„Wenn sie bei Amariter lebt, hat sie aber keine Manieren, Plum. Sie ist bestimmt ungezogen, gehässig- bist du dir wirklich sicher?“
„Absolut sicher. Ich bleibe dabei. Ich werde sie schon erziehen.“
„Dann wäre das geklärt“, bemerkte Enya abschließend. Dann prustete sie los. „Plum, die Pflaume und Peach, der Pfirsich werden ein Paar und bekommen drei Kinder: Apricot, die Aprikose, Cherry, die Kirsche und Nectarine, die Nektarine!“
Plum warf ihr einen missmutigen Blick zu, der sie sofort zum Schweigen brachte.
Enya wurde wieder ernst und fragte: „Aber warum hat sie Ich bringe es nicht über mich, meine Tochter mitzunehmen, aber deine Freundin bedeutet mir nichts! gesagt?“ Sie biss sich auf die Lippen, sodass sie weiß wurden.
Plum schwieg und konnte ihr nicht in die Augen sehen.
„Soweit ich weiß, sind meine wahren Eltern zu Hause und haben vergessen, dass es mich überhaupt gibt.“
Plum schaute sie teils mitfühlend, teils warnend an, um ihr klarzumachen, keine Kritik an Dragos Entscheidungen zu fällen.
Dann antwortete er leise: „Mach dir keine Sorgen. Amariter hatte schon immer nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
Aber Enya merkte, dass Plum ihr etwas verschwieg. Etwas sehr, sehr Wichtiges.
Sie seufzte. „Ich hoffe nicht, dass sie meine Mutter ist. Meine Eltern heißen Gloria und Guido und meine Schwester Viola. Und daran wird sich niemals etwas ändern! Nur, weil eine verrückte Frau meint, sie wäre meine Mutter, kann man mein Leben nicht auf den Kopf stellen!“
Plum lächelte ihr aufmunternd zu. „Besser hätte man es nicht ausdrücken können.“
„Und wo sind die anderen?“, wollte Enya wissen. „Neró und Jord?“
„Die haben sich davongeschlichen, als du angefangen hast, mit Aura zu sprechen. Sie befinden sich in der Nähe von Dragos Höhle und bauen euch Vieren zwei Baumhäuser.“
Sie nickte. „Und was werden wir heute Abend essen?“ Ihr Magen knurrte als Zustimmung.
Plum lächelte. „Ich werde euch eine Spezialität kochen: Yuxak-Tortschel! In eurer Sprache würde es… äh… Knubbelpilz-Brei heißen.“ Als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: „Das ist ein Pilz, der Pfifferlingen sehr ähnelt. Sein Geschmack ist aber etwas anders- Du wirst schon sehen… beziehungsweise schmecken. In eurer Welt gibt es ihn übrigens nicht.“
„Okay“ sagte die Hüterin des Feuers, weil ihr nichts dazu einfiel.
„Enya, ich habe dich und Aura vorhin beobachtet. Woher weißt du von dem Zeichen?“
Enya starrte ihn wortlos an.
„Was ist?“, verteidigte sich Plum beleidigt. „Ich habe sonst nie etwas zu tun. Deshalb passe ich eben gerne genau auf, was im Wald passiert.“
Enya schüttelte in gespielter Fassungslosigkeit den Kopf: „Ein Spion, auch das noch.“ Dann erzählte sie, was sie vor nicht allzu langer Zeit auch Aura erklärt hatte.
Plum sah unsicher aus. „Wann genau hast du es dir… ausgedacht? Kannst du dich erinnern?“
Die Hüterin des Feuers blinzelte. „Ich glaube, es war… als ich zehn Jahre alt war…“
„Und wo?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Meine Güte, Enya! Streng dich an. Es ist wichtig!“
Enya schloss die Augen und konzentrierte sich. Eine vage Erinnerung schlich sich in ihr Bewusstsein: Sie saß auf einer Bank auf dem Pausenhof ihrer ehemaligen Grundschule. In ihrer rechten Hand lag ein Bleistift, in der linken ein Skizzenblock, als fünf Jungen auf sie zukamen.
„Na, Fusselkopf?“, sagte der eine. „Wieder Mal in die Steckdose gefasst?“
„Oh nein, Tom. Wohl eher Medusa. Wie die Hexe mit den lebenden Haaren!“, verbesserte der zweite lachend.
Der Junge, der Tom hieß und eindeutig der Anführer der Bande war, zuckte nur die Schultern. Dann zog er Enya mit eisernem Griff am Arm hoch. „Worauf wartest du?“, knurrte er, „Steh auf!“
„Was? Wie?“, fragte Enya mit dünner Stimme. Doch die Jungs hatten kein Erbarmen und begannen, ihr feixend Kaugummi in die Haare zu schmieren.
„Hört auf!“, schrie Enya und versuchte, sich loszureißen. Doch niemand auf dem Schulhof hörte sie, denn er war leer. Es hatte bereits geklingelt, und die Unterrichtsstunde hatte begonnen.
Tom und seine Freunde schubsten sie auf den Boden. Als sie wieder aufstand, waren ihre Knie aufgeschürft. Sie versuchte, die Tränen herunterzuschlucken, die tief in ihrer Kehle festsaßen, doch sie ließen sich nicht bremsen.
„Und jetzt heult sie auch noch“, höhnte einer der Jungs.
„DAS IST… FEIGE!“ Sie konnte sich nicht bremsen. Ihre Stimme donnerte wie ein Gewitter. Die Jungen verstummten mit einer Mischung aus Überraschung und Angst.
„Was ist feige?“, wollte Plum wissen.
Mit einem Mal kehrte Enya in die Gegenwart zurück. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, den Satz laut gesagt zu haben.
So genau wie möglich schilderte sie ihre Erinnerung.
Plum sah beunruhigt aus. „Und jetzt sage mir… Was hat diese Erinnerung mit dem… mit diesem Symbol zu tun?“
Enya räusperte sich. „Am Nachmittag desselben Tages zeichnete ich es.“
„Das Symbol?“
„Was sonst?“
Nun sah Plum nicht nur verunsichert aus, er holte tief Luft und ließ sie mit einem Mal wieder aus, als ob er sich Sorgen machte.
„Was ist los?“, erkundigte sich Enya.
„Nichts. Hoffe ich jedenfalls.“ Plums Gesicht nahm einen pinken Farbton an.
„Ach ja? Und wieso wirst du rot?“, fragte Enya und hob eine Augenbraue.
„Ach, alles in Ordnung“, beschwichtigte er, doch die Hüterin des Feuers merkte, dass keinesfalls alles in Ordnung war.
Sie wollte gerade etwas erwidern, als ein Wind auffrischte. Kurze Zeit später saß Drago neben ihnen und ließ genussvoll seine Krallen ein- und ausfahren. „Habe ich etwas verpasst?“

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