Kapitel 7

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis


Es dauerte ungefähr eine Stunde, ehe alle Fragen von Aura, Jordan und Neró beantwortet waren und sie sich einigermaßen vom Schock erholt hatten. Doch dank der Duldsamkeit des edlen Drachen wurde nicht das kleinste Detail ausgelassen.
„Nun denn“, nahm Drago den Faden wieder auf, „etwas habe ich euch verschwiegen.“ Er seufzte.
„Ja?“, hakte Enya gereizt nach. Sie musste sich eingestehen, dass sie etwas enttäuscht war, nicht mehr die Einzige zu sein, die bald ein Element besitzen würde. Auch, wenn es eigentlich offensichtlich gewesen war, dass irgendjemand wohl die anderen Elemente übernehmen würde. Für eine Woche hatte sie sich für etwas Besonderes gehalten. Doch nun würde Aura die Luft, Jordan die Erde und Neró das Wasser beherrschen.
Dragos Augen, alt wie die Welt, richteten sich auf sie. Seine Gesichtszüge wurden weicher. „Ach, Enya. Im Kampf ist Feuer das mächtigste aller Elemente. Es gibt keinen Grund, sich wie eine Versagerin zu fühlen.“
Sie wurde erneut ein klein wenig rot. Mann, ist das peinlich! Zum einen war es ihr unangenehm, weil er ihre Gedanken erraten hatte, und zum anderen, weil Neró schmunzelte und Aura und sogar Jordan sie anstarrten wie einen Fernseher.
Aura wendete sich wieder Drago zu: „Wie kommt es eigentlich, dass wir unseren Elementen äußerlich relativ ähnlich sehen… und Enya überhaupt nicht?“ Enya hörte Jordan genervt aufstöhnen. Aber sie hat recht, überlegte sie in Gedanken.
Auch Drago schien die Frage nicht wirklich angebracht zu finden. „Es gibt auch Feuer, das von innen kommt“, sagte er leise. Enya starrte ihn nachdenklich an; gleichzeitig spürte sie Neròs Blick auf sich.
Dann hörte sie Jordan fragen: „Was wolltet Ihr uns vorhin sagen, Majestät? Ehe Aura das Bedürfnis hatte, sich mitteilen zu müssen?“
Drago fing wieder von vorn an: „Wenn ihr diese Aufgabe annehmt…“ Er setzte eine Pause. „Solltet ihr sie annehmen, dann dürft ihr vorerst nicht mehr in die Welt der Menschen zurückkehren.“
Der Satz schlug bei den zukünftigen Elementhütern ein wie ein Blitz. Schlagartig verdunkelten sich ihre Gesichter, und ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Aura öffnete protestierend den Mund, da fragte Nerò schon: „Warum denn?“
Drago sah in den Himmel und seufzte. „Weil ihr sonst der Menschheit alles verraten würdet. Aber Dragosia ist und bleibt ein Geheimnis. Und ich würde es nicht über mich bringen, eure Gedanken zu löschen, denn nach der ganzen Sache werdet ihr mir sicher ans Herz gewachsen sein. Deshalb werdet ihr einfach hier bleiben.“
„Ich habe kein Problem damit“, warf Aura unvermittelt ein. Enya betrachtete sie irritiert, doch das Mädchen wich seltsamerweise ihrem Blick aus.
„Ich würde es auch tun, aber… meine Familie würde mich zu sehr vermissen. Sie würden sich zu große Sorgen machen“, warf Jordan ein.
Da erklärte Drago schnell: „Ich habe mir natürlich schon überlegt, dass Plum in eure Welt geht und dort alle Beweise zerstört, die belegen, dass es euch gibt.“ Er rieb verlegen eine Klaue an der Erde und betrachtete sie eingehend: „Ähm… Unter anderem mithilfe von magischen Mitteln.“
„In Ordnung. Dann nehme ich mein Element an“, sagte Jordan und betrachtete betreten den Erdboden vor seinen Füßen. Enya konnte den Schmerz in seinen Augen erkennen und war auch bei ihm verwundert, wie er eine solch folgenschwere Entscheidung so einfach, schnell und ohne Umschweife treffen konnte.
„Ich hatte ja schon vorher meine Zustimmung gegeben“, meinte Aura gleichgültig, als ob ihr die Welt der Menschen völlig egal wäre.
„Nun, das ist bei mir angekommen“, erwiderte Drago. Eine Spur Verständnis mischte sich in seine Stimme, und er warf dem Mädchen einen kurzen, mitfühlenden Blick zu.
„Ich werde nicht hierbleiben!“, widersprach Neró sofort. „Mein kleiner Bruder ist tiefbegabt. Er braucht jemanden, der ihm weiterhilft, zum Beispiel bei den Hausaufgaben. Wenn ich nicht mehr da bin, wer soll ihm dann helfen? Mein Vater arbeitet und ist nie zuhause und meine Mutter ist… nun ja… schulisch unbegabt.“
„Das ist kein Problem“, erklärte Drago, „Wir werden das Leben deiner Familie einfach etwas umkrempeln.“ Er überlegte eine Weile. Dann merkte er an: „Deiner Mutter zaubere ich einen geeigneten Abschluss. Ab sofort kann sie deinem Bruder bei den Hausaufgaben behilflich sein.“
Neró blickte den Drachen unschlüssig an. „Trotzdem… Ich werde meine Familie nie wiedersehen…“
„Oh nein“, widersprach dieser energisch, „du kannst sie von hier aus beobachten.“
Neró zögerte. Er sah zu Drago, für den Bruchteil einer Sekunde zu Enya, sodass diese sich im Nachhinein gar nicht mehr sicher war, und zurück zum Drachen. „In Ordnung. Es steht schließlich die Rettung der Menschheit auf dem Spiel.“
Doch Enya schäumte vor Wut. Sie verschränkte die Arme und verkündete: „Mich kann man nicht so einfach überzeugen! Ich werde nach Hause zurückkehren!“
„Wow. Die kleine Flamme sprüht Funken“, bemerkte Aura spöttisch.
Enya wurde rot. Warum muss das schon wieder anfangen? Langsam hatte sie es wirklich satt.
Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Drago jedoch knurrend dazwischen: „Aura! Hör sofort auf damit!“ Und zu Enya sprach er freundlich wie eine schnurrende Katze: „Rede weiter. Ignoriere sie einfach.“
Die Hüterin des Feuers brauchte eine Weile, um sich zu erinnern. „Ach ja… Ich wollte sagen, dass ich meine Familie nicht einfach verlassen kann.“ Sie ließ eine Pause. „Vielleicht kennt Ihr das Gefühl nicht, zu einer Familie zu gehören, Majestät. Es bedeutet Geborgenheit, einen Platz in der Welt zu haben. Ohne eine Familie ist man nichts.“ Sie sah dem Drachen fest in die Augen. „Es tut mir leid. Ich bin nicht die Richtige für diese Arbeit. Ihr müsst euch jemand anderen aussuchen.“
Die Pupillen des Drachen weiteten sich erstaunt. Dann lächelte das wundersame Wesen.
„Genau, weil du das gesagt hast, hast du mich nur noch mehr überzeugt, dass du die Richtige bist. Ich weiß sehr wohl, was eine Familie ist, Enya. Und ich kenne das Gefühl, wenn sie einem genommen wird.
Hör zu: Wenn du in die Menschenwelt zurückkehrst, gehst du gleichzeitig das Risiko ein, dass sie dir genommen wird.“
Enya stockte. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Wenn sie zurück nach Hause ging, würde Drago die Welt der Menschen zerstören, da es keinen gäbe, der das Element Feuer annehmen und Amariter besiegen würde. Es war Erpressung. Und es war die bittere Wahrheit. Der Drache hatte in den letzten Minuten so freundlich geklungen, doch letzten Endes war es lediglich wie eine Maske gewesen, die er nun für einen Augenblick abgesetzt hatte.
Entsprechend der misslichen Lage erwiderte Enya mit kalter Stimme: „Ich habe mich getäuscht. Ihr habt es geschafft, mich zu überzeugen. Herzlichen Glückwunsch.“
Der hünenhafte Drache dehnte sich und ließ seine Muskeln spielen. „War ein Kinderspiel“, verkündete er etwas missbilligend. „Morgen fängt der Unterricht an. Den restlichen Tag könnt ihr euch besser kennenlernen. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang wieder hier.“
Damit schwang er sich in die Lüfte und war in den Weiten des Himmels verschwunden.
Für einige Minuten schauten sich die vier Auserwählten nur wortlos an, ohne etwas zu sagen.
„Oh Mann! Das ist alles so… fantastisch!“ Aura machte einen Freudensprung. „Viel besser als das wirkliche Leben!“
Neró schaute in die Ferne und stellte achselzuckend fest: „Irgendwie schon. Aber trotzdem… ich kann mir nicht vorstellen, einfach so mein altes Leben zurückzulassen. Und mein Bruder wird mich bestimmt vermissen.“
„Ich vermisse meine Experimentierkästen, die jetzt einsam in meinem Zimmer liegen“, sagte Jordan niedergeschlagen.
„Ich vermisse meine Familie. Und Cantos!“, seufzte Enya. Als die anderen sie verdutzt ansahen, fügte sie hinzu: „Das ist eine Bordeauxdogge. Eigentlich gehört der Hund der Chefin meiner Mutter, aber wir durften ihn uns manchmal ausleihen. Er war unglaublich hässlich, aber sehr gutmütig.“
„Was ist denn eine Bordeauxdogge?“, wollte Aura wissen.
„Das ist eine französische Hunderasse, die auch im Film ‚Scott and Huutsch‘ eingesetzt wurde. Sie ist allerdings ziemlich gefährlich. In einem Kanton der Schweiz ist seine Haltung sogar verboten…“, setzte Jordan an, aber da unterbrach ihn Aura schon: „Na toll. Ein Streber.“
„Hör doch auf!“ Enya konnte sich nicht bremsen.
„Willst du dich auch noch einmischen, kleine Flamme?“ Das hochgewachsene Mädchen sah sie drohend an.
„Halte sie da raus!“ Neró machte einen Schritt auf Aura zu.
Zu Enyas Erstaunen trat die Hüterin der Luft daraufhin einen Schritt zurück.
Zuerst blickte sie wütend von einem zum anderen. Dann schrie Aura aufgebracht: „Was ist denn bloß los mit euch? Ihr könnt mir doch alle den Buckel herunterrutschen!“ Wie eine dampfende Lokomotive stand sie einige Sekunden noch da. Dann rauschte sie fluchend in den Wald hinein.
„Na super“, bemerkte Neró sarkastisch. Man merkte sofort, dass ihm nicht wohl bei der Sache war.
„Was hatte die denn für ein Problem?“ Jordan konnte es ebenfalls nicht fassen. „Vielleicht klang es etwas zu besserwisserisch… manchmal kommen mir aber eben unzählige Fakten in den Sinn, und ich muss sie einfach erzählen. Das hängt mit der Hochbegabung zusammen, das lässt sich nicht so einfach unterdrücken.“
„Du bist hochbegabt?“, fragte Neró beeindruckt.
„Äh, Leute“, fuhr Enya dazwischen, die bisher nur stumm zugehört hatte, „ich wollte nur sagen, dass Aura lieber nicht allein hier herumlaufen sollte. Wir müssen zusammenbleiben. Wer weiß, welche Geschöpfe in Dragosia ihr Unwesen treiben. Wir sollten ihr folgen.“
Jordan zuckte die Schultern; Aura war nicht zu seinem Lieblingscharakter geworden. Auch Neró sah nicht sonderlich begeistert aus, aber angesichts der Lage, in der sie sich befand, nickte er zustimmend.
Sie liefen in die Richtung, in der sie verschwunden war, und hielten die Augen nach Lebenszeichen offen. Unentwegt folgten sie umgeknickten Ästen und zertretenen Pilzen. Jordan, der sich seinen Naturführer im Kopf behalten hatte, konnte ihnen wichtige Tipps geben.
Schließlich machten sie das Mädchen mit den gefärbten Haaren aus. Es bückte sich, um einen Stock aufzuheben. Die drei versteckten sich hinter einem Gebüsch und beobachteten Aura, wie sie ein Taschenmesser aus ihrer Tasche nahm und damit das Stück Holz zu einem Speer bearbeitete.
„Was macht sie denn da?“, fragte Jordan und riss entgeistert die Augen auf. „Und woher hat sie bitte das Messer?“ Bei letzterer Frage rutschte seine Stimme eine Oktave höher.
„Na los! Geh schon“, wisperte Neró Enya zu, ohne auf die vorherigen Bemerkungen einzugehen.
„Warum ich?“, flüsterte sie zurück.
Neró grinste. „Weil du ein Mädchen bist. Ladys first! Und außerdem war es deine Idee.“
„Beeile dich, bevor sie auf dumme Gedanken kommt“, ließ sich nun auch Jordan vernehmen.
„Im Notfall sind wir ja immer noch da“, ergänzte Nerò.
Mit diesen Worten in den Ohren schob sich Enya aus dem Gebüsch. „Aura?“, hörte sie sich fragen. Ihre Stimme hörte sich seltsam zitterig an. Immerhin hatte Aura ein Messer in der Hand.
Das Mädchen ließ den Ast fallen, steckte das Taschenmesser in ihre Hosentasche und drehte sich um. Ihre Augen richteten sich auf die Hüterin des Feuers, die etwas unsicher aussah.
„Hallo, Enya.“ Sie zögerte etwas. „Ich weiß, dass ich mich nicht wirklich vorbildlich verhalten habe. Tut mir leid.“
Enya atmete innerlich aus und lächelte versöhnend: „Entschuldigung angenommen. Und wir hätten dich nicht einfach davonlaufen lassen sollen. Tut mir auch leid.“
Einige Momente schwiegen sie, doch es war eine angenehme Ruhe.
Enya fiel auf, dass Aura sie um einen ganzen Kopf überragte.
Wann fange ich denn endlich an, etwas zu wachsen?, fragte sie sich.
„Weißt du“, durchbrach die Hüterin der Luft die Stille, „so schlimm bist du gar nicht. Und Jord und Neró auch nicht. Ich bin wie immer diejenige, die alles versaut. Meine Mutter sagte immer, lieber gut in der Schule sein anstatt ein Dummkopf. Der Spruch ist anscheinend in Vergessenheit geraten.“ Ihr Blick wanderte in die Ferne. „Sie ist letztes Jahr gestorben.“
Einen Moment lang war Enya zu erschrocken, um etwas zu sagen. Dann ging sie langsam auf das ältere Mädchen zu und blieb knapp einen halben Meter vor ihr stehen.
„Das tut mir sehr, sehr leid.“ Sie kramte in ihrer Hosentasche, holte einen Button hervor und reichte ihn Aura: „Hier. Das ist für dich.“
Das Mädchen mit den gefärbten Haaren betrachtete den Ansteckknopf mit dem darin enthaltenen Bild und runzelte nachdenklich die Stirn.
Die Abbildung zeigte ein schwarz-weißes Gebilde.
„Was soll das darstellen?“, wollte sie wissen.
Enya zuckte die Schultern. „So genau weiß ich das selbst nicht. Ich habe mir das Zeichen, glaube ich, selbst ausgedacht. Das war aber schon längere Zeit her. Ich weiß nicht, wie es mir damals in den Sinn gekommen ist. Als ich meine Eltern danach gefragt habe, bestellten sie mir zehn dieser Buttons. Ich habe in jedes dieses Bild hineingelegt.“
„Ja, aber… Du hast sie immer in der Tasche? Wieso?“
Enya lächelte und erwiderte: „Es kann immer ein Glückstag sein.“
„Um neue Freunde zu finden?“
„Vielleicht.“
Nun musste auch Aura lächeln. „Darf ich den Button behalten?“
„Natürlich… Ich wollte noch etwas wissen… also, wenn es dir nichts ausmacht…“
„Ja?“, half ihr Aura auf die Sprünge.
Enya beobachtete, wie ihre neue Freundin den Button in ihre Tasche steckte, und sagte zögerlich: „Es ist so ungerecht… Ich habe solches Glück mit meiner Familie. Und du… bei dir ist es genau umgekehrt. Ich wollte dich nur fragen- dein Vater lebt noch, oder?“
Aura nickte, nur um danach hinzuzufügen: „Ja, glaube ich jedenfalls. Er verließ uns, als ich vier Jahre alt war. Meine Mutter heiratete einen anderen Mann. Zuerst war er auch in Ordnung. Er half meiner Mutter im Haushalt und mir bei den Hausaufgaben. Als meine Mutter zum ersten Mal an Krebs erkrankte, fing er mit dem Alkohol an. Er war immer betrunken, wenn ich von der Schule kam. Das Jugendamt schaltete sich auch oft ein, aber es brachte nichts. Er konnte sich immer herausreden.“
Als Enya etwas erwidern wollte, fiel ihr ein Schatten auf, der Dunkelheit über ihre Köpfe warf.
Sie blickten nach oben.
„Rührende Geschichte“, sagte eine Stimme, schrill wie Schmirgelpapier, „ihr passt wirklich zusammen wie Zimt und Zucker. Eine Freundschaft, so süß wie Erdbeeren, die in der Sonne verfaulen. Einfach zum Anbeißen!“
„Amariter“, stöhnte Enya. „Na toll.“
„Ach. Hat der kluge, alte Drago von mir erzählt? Wie reizend!“
Die Zauberin landete auf der Erde. Enya und Aura betrachteten die Frau, die boshaft lächelnd auf sie zukam.
Auf den ersten Blick war sie hübsch.
Sie war von schlanker, großer Gestalt und hatte milchweiße Haut. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einer wilden Mähne aufgemacht. Amariter trug trotz des Sonnenscheins einen schwarzen Mantel. Eine rote Pelzstola säumte ihren Hals, außerdem trug sie rote Lackschuhe mit hohen Absätzen, rote Ohrringe und einen weiten, roten Hut, der ihr Gesicht in bizarre Schatten tauchte.
Auf den zweiten Blick erkannte man ihre gespaltene Zunge, die hektisch über ihre kirschroten Lippen fuhr und dadurch ein Zischeln hervorbrachte. Spitze, gefeilte, blitzweiße, aber dennoch schiefe Reißzähne lungerten in ihrem Mund und kamen beim Sprechen zum Vorschein, als ob sie nur darauf warten würden, zuzubeißen.
Auf den dritten Blick erkannte man die rote Iris in ihren kalten Augen, die ihnen ein grausames Funkeln verlieh und die schwarze Pupille ummantelte.
Und auf den letzten Blick, bevor jeder normale Mensch geflüchtet wäre, hätte man fast die Finger übersehen: Jeder Fingernagel von Amariter wurde von einer langen schwarzen Kralle ersetzt, die messerscharf und an den Spitzen dunkelrot lackiert war.
Enya fragte sich, wie sie bloß den Mut zusammennehmen konnte, als sie zähneknirschend fragte: „Was willst du?“
Amariter lachte hysterisch. „So etwas wie Angst kennst du nicht, oder?“
Im Bruchteil einer Sekunde löste sie sich in Luft auf.
Die beiden Freundinnen blickten sich erschrocken um. Ihre entsetzten Blicke trafen sich, während Aura in ihre Hosentasche mit dem enthaltenen Taschenmesser griff.
Auf einmal erschien Amariter hinter Enyas Rücken und grub die lackierten Krallen in ihre Schultern. „Ich werde dir Angst lehren, Kleines!“, zischte sie in ihre Ohren.
Enya fuhr ruckartig herum, doch nun stand die Zauberin wieder vor ihr. Plötzlich fiel ihr auf, dass die Sonne verschwunden war. Sie schlang die Arme zitternd um sich. Ihr fror es, als wäre es Winter geworden.
„Hör auf mit dem Quatsch!“, fuhr Aura die Hexe an und zückte etwas zögerlich das ausgefahrene Taschenmesser. Sie hob den vorhin geschnitzten Holzspeer vom Waldboden auf und warf ihn Enya zu, die ihn gerade so auffing.
Amariter grinste hämisch. Jedenfalls zeigte sie bleckend ihre Zähne, was kein schöner Anblick war. „Du willst mir etwas befehlen, Mädchen? Pass auf!“
Ehe sie es sich versah, hatte die Zauberin sie geschickt im Schwitzkasten, scheinbar ohne sich von der Stelle bewegt zu haben.
Enya befreite sich aus ihrer Schockstarre und rannte zu ihrer erst neugewonnenen Freundin. Doch Amariter schwebte jetzt über ihr in der Luft, ihr Arm um Auras Hals geschwungen, deren Gesicht eine ungesunde Farbe angenommen hatte. Langsam flogen sie nach oben. Ihre Konturen verschwammen, und Enya nahm nur noch undeutlich die Gestalten wahr.
„Lass sie los! Nimm mich stattdessen mit!“, schrie Enya dennoch aus Leibeskräften.
Keuchend lauschte sie den folgenden Worten, die ihr der Wind zutrug: „Niemals! Ich bringe es nicht über mich, meine Tochter mitzunehmen, aber deine Freundin bedeutet mir nichts!“

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