„Na? Wie war es in Dragosia?“, fragte Gloria etwas argwöhnisch an der Haustür. Sie versuchte einen spöttischen Unterton einzulegen, aber irgendetwas überzeugte Enya daran nicht. Sie betrachtete lediglich forschend ihr Gesicht.
„Du meinst im Wald? Toll, ehrlich“, meinte Enya leichthin.
Ihre Mutter stellte keine weiteren Fragen, obwohl sie sie mit einer Spur Interesse betrachtete, doch plötzlich stand Viola mit verschränkten Armen vor ihr: „Was sollte denn der Unsinn? Dragosia. Als ob ich dir diese Geschichte glauben würde!“
Enya zuckte gleichgültig die Schultern. „Ich wollte dich auf den Arm nehmen. Ein Versuch war es wert.“
„Netter Scherz. Das ist der Dank dafür, dass ich gestern mit dir den Herr der Ringe geschaut habe!“
„Du hast angefangen, mit mir den Herr der Ringe zu schauen“, widersprach sie ihrer Schwester.
„Ach, hör doch auf!“, schnaubte Viola nur und verzog sich in ihr Zimmer.
Der Tag näherte sich stetig dem Abend zu. Der Sonntag stand an der Tür, und der Montag ließ auch nicht auf sich warten. Die Woche verstrich, auch wenn sie sich Enyas Meinung nach in die Länge zog wie die chinesische Mauer.
Schließlich war es wieder Samstag.
Mit freudiger Erwartung frühstückte sie, putzte sich die Zähne, ging duschen, trocknete sich die Haare, zog sich an und ging endlich los.
Schon in der Nähe von Dragos Bau bekam sie eine Auseinandersetzung zwischen dem Drachen und Plum mit:
„Bitte, Euer Hoheit! Es kann doch nicht so schwer sein, mir einen neuen Namen zu geben!“
„Warum willst du ihn dir überhaupt ändern lassen? Er ist doch –wie soll ich es ausdrücken?- ziemlich… treffend.“ Ein kehliges Gekicher war zu hören.
„Das ist nicht lustig! Man kann doch nicht denselben Namen tragen wie ein Stück Obst!“
„Wirklich?“ Enya musste bei der gespielten Verblüffung des Drachen schmunzeln. „Das wusste ich nicht. Tut mir leid.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Du kannst gehen, Plum. Ich werde deinen Namen nicht ändern.“
„Aber…“
„Ich sagte, du bist vorerst entlassen. Und übrigens: Enya steht vor dem Eingang. Sie hat jedes Wort vernommen.“
Wenige Sekunden darauf kam ihr die Fellkugel aus der Höhle entgegen. „Warum kann sein Spürsinn nicht mit den Jahren nachlassen?“, murmelte er vor sich hin. Als er Enya erblickte, färbte sich sein Fell im Gesicht vor Verlegung blassrot.
„Hallo, Plum. Ich dachte, der Name wäre dir egal?“
Seine Gesichtsfarbe wechselte zu tomatenrot. „Äh…“
„Ach, das macht doch nichts. Enya hört sich auch nicht viel besser an.“
Plum versuchte sich an einem leicht schiefen Grinsen. Doch plötzlich verharrte er wie eine Salzsäule. Aufgeregt murmelte er: „Da kommen die anderen!“
Ehe sie es sich versah, war Plum mit eiligen Schritten im Wald verschwunden.
„Wer ist da?“, wollte auf einmal eine ihr unbekannte Stimme wissen.
Enya drehte sich um und erblickte drei Jugendliche, die näherkamen.
Das erste war ein hochgewachsenes Mädchen mit sehr blasser Haut und Sommersprossen. Enya fielen sofort die kleinen hellen Augen des Mädchens auf, die dunkel umrahmt worden waren. Es besaß einen Haarschnitt, den Enyas Mutter wohl scherzhaft als „Pilzkopffrisur“ bezeichnen würde; ihre auffällig schwarz-pink gefärbten Haare umrahmten in rundlicher Weise ihr Gesicht und waren kurz über der Schulter scharf abgeschnitten. Sie trug neongrüne Shorts im Destroyed-Look und ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten grellweißen Totenkopf. Über ihrer Schulter hing eine quietschrot lackierte Handtasche. Neben dem Mädchen fühlte sich Enya sofort wie eine kleine graue Maus.
Der etwas kleinere Junge neben ihr hatte braune Haare, ebenso braune Augen, eine Brille und machte einen etwas normaleren Eindruck. Er war schlaksig gebaut, hatte einen gebräunten Teint und besaß feine Gesichtszüge. In seinem rechten Ohr steckte ein einzelner Kopfhörer; ab und zu wippte er mit dem Kopf im Takt mit.
Beim dritten Jungen stockte Enya zuerst. Er besaß schwarze Haare und strahlend blaue Augen, die sie aufmerksam anblickten. Auch er war ziemlich groß und starrte sie wortlos an. Plötzlich verzogen sich seine Mundwinkel leicht nach oben, woraufhin sie schnell woandershin blickte.
Eine Weile sahen sie sich alle an, und Enya fiel auf, dass sie von allen dreien um mindestens einen Kopf überragt wurde.
„Äh…“, stammelte sie schließlich, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie war nicht besonders gut darin, Konversationen einzuleiten. Stell dich erstmal vor!, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie sammelte ihren Mut zusammen, versuchte etwas aufrechter zu stehen und sagte: „Ich bin Enya.“
„Cooler Name“, meinte das Mädchen mit den gefärbten Haaren und betrachtete ihre neongelb lackierten Fingernägel, „ich heiße Aura. Das kommt aus dem Lateinischen und steht für Luft oder Brise, und natürlich für Gold.“ Sie schaute Enya prüfend an und fragte mit einem winzigen Anflug von Interesse: „Was bedeutet dein Name? Ich habe ihn noch nie gehört.“
Im Bruchteil einer Sekunde freute sich Enya, dass sich das Mädchen wie sie für Namensbedeutungen interessierte, obwohl sie bei ihrer kleinen Ansprache ein wenig von oben herab gesprochen hatte. „Äh… Ich glaube, er bedeutet ‚kleines Feuer‘“, stammelte Enya. Ihr kurzzeitig aufgekeimtes Wohlwollen verflog, als sie Auras hämischen Gesichtsausdruck sah.
Enya spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie sah, wie sich Aura zu beherrschen versuchte und sich ein Lachen nur mit Mühe verkneifen konnte.
„Ich heiße Jordan. Aber alle nennen mich Jord“, stellte sich der braunhaarige Junge unbeirrt vor und rückte seine Brille zurecht. Er machte einen ruhigen und gefassten Eindruck und war Enya um Längen sympathischer.
Der Junge mit den schwarzen Haaren starrte Enya noch immer schweigend an. Während sie versuchte, ihre Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle zu bringen, sagte er lächelnd: „Ich bin Neró.“ Seine blauen Augen blitzten. Irgendwie gelang es ihr, zurückzulächeln.
„Also: Was ist das hier für eine Welt? Die Jungs und ich trafen uns unerwartet an diesem eigenartigen Tunnel, und plötzlich waren wir hier! Wir fühlten uns aus irgendeinem Grund dem Ort angezogen“, erzählte Aura und setzte eine Pause, bevor sie fortfuhr: „Du musst wissen, dass wir uns vorher gar nicht kannten. Es war fast wie… Zauberei.“ Die Jungen nickten zustimmend.
Enya machte eine ausladende Handbewegung und entgegnete schulterzuckend: „Ihr werdet es mir zwar bestimmt nicht glauben, aber ihr seid hier in Dragosia gelandet!“
Alle drei machten ein verwirrtes Gesicht. Bevor sie weitere Fragen stellen konnten, kam aber bereits ein gewaltiger Luftzug auf, der ihnen um die Ohren fegte, und Enya hörte gerade so das ihr nur allzu bekannte Geräusch aneinander reibender Schuppen. Kurz darauf erzitterte der Boden unter ihren Füßen, und Drago stand vor ihnen. Ohne Rücksicht auf die erschrockenen Gesichter der Neuen zu nehmen, äußerte er sich in seiner vollen Größe und mit dröhnender Stimme: „Ab hier übernehme ich.“