Kapitel 2

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis

Enya wurde von den Sonnenstrahlen geweckt, die an ihrem Gesicht leckten.
Blinzelnd sah sie zuerst auf die Uhr und dann aus dem Fenster. Es war acht Uhr morgens. Keine Wolke war am blauen Himmel zu sehen. Sie gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. Dann ging sie den heutigen Tag durch. Das Problem war nur, dass sie nichts vorhatte…
Nicht schon wieder!
Enya genoss es noch einen Moment, in ihrem Bett zu liegen und die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren, bevor sie aufstand und nach unten ins Wohnzimmer ging.
Sie begrüßte ihre Mutter, die Wäsche aufhing, und ihren Vater, der seinen Kaffee trank und sich hinter seiner Zeitung versteckte. Eine Weile beobachtete sie, wie er auf seine eigentümliche Art und Weise die Zeitung von rechts nach links durchblätterte und die Artikel von unten nach oben las. Dann füllte sie ihre Müslischale und rührte gedankenverloren darin herum.
Nach fünf Minuten gesellte sich auch ihre Schwester zu ihnen, um zu frühstücken.
Dann verzog sich Viola wieder nach oben, um sich „frisch zu machen“ (das hieß, sie würde erst nach mindestens zwei Stunden das Bad verlassen), ihre Mutter ging arbeiten, und ihr Vater, der an diesem Tag wie auch am vorigen immer freihatte, kämpfte mit Bügeln, Waschen und Kochen.
Derweil lernte Enya für den bevorstehenden Englisch-Vokabeltest. Das dauerte gerade einmal eine Stunde.
Danach sprang sie die Wendeltreppe hinunter, ging ins Wohnzimmer und sah ihrem Vater beim Herumwerkeln zu.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. „Weißt du, was ich heute machen kann?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Guido Bergkamm bückte sich, um eine heruntergefallene Wäscheklammer aufzuheben, klaubte sich eine kurze Haarsträhne aus dem Gesicht und überlegte.
Schließlich antwortete er: „Ich habe heute leider keine Zeit für dich. Du weißt, dass heute für mich Putztag angesagt ist. Aber… Vielleicht hast du Lust, in den Wald zu gehen?“
Den Wald konnte man mit fünf Minuten Fußweg erreichen. Enya war zwar schon sehr oft dort gewesen und kannte ihn inzwischen regelrecht auswendig, aber es war immer noch besser, als sich weiter zu langweilen.
„In Ordnung“, sagte sie also resigniert. Ihr Vater fuhr ihr kurz schmunzelnd durchs Haar: „Keine Sorge, irgendetwas interessantes wird sich schon ergeben. Das tut es immer, wenn man es am wenigsten erwartet!“
Enya ließ ihren Vater weiter putzen und machte sich einen Rucksack bereit. Sie schulterte die Tasche, verabschiedete sich und ging los.
Im Wald angekommen, empfingen sie Vogelgezwitscher, raschelndes Laub und knackende Äste. Beim Laufen summte sie vor sich hin und genoss die Geräusche des Waldes. Aus unerfindlichen Gründen hatte er schon immer eine beruhigende Wirkung auf Enya gehabt. Schließlich kam sie an ihrer Lieblingsstelle am äußeren Rande des Waldes an.
Es war ein Abflusskanal, der gerade einmal so breit wie einer von Enyas Füßen war und dessen Wasser aus einem kreisrunden Spalt im Boden floss und sich in einem kleinen Tunnel, der sich in einer grasbewachsenen Anhöhe befand, verlor. Die spärlich mit Gras bewachsene Wiese, die sich um den Tunnel herum erstreckte, neigte sich zum kleinen „Fluss“ hin nach unten. Das Gebiet wurde mit einem schulterhohen Zaun vom Wald abgetrennt und beherbergte recht viel Müll.
Enya blieb stehen und schaute zum kleinen Tunnel. Er war aus Stein und schien unendlich alt. Wie jedes Mal fragte sie sich, was sich wohl hinter ihm befand. Sie presste ihr Gesicht gegen die Gitterstäbe, legte ihre Hände auf den Zaun und spürte die Kälte des Metalls an ihren Fingern.
Früher, als sie kleiner war, hatte sie ihre Eltern gefragt, ob sie über den Zaun klettern dürfe, um sich den Tunnel anzusehen. Ihre Mutter hatte damals gesagt, dass sie es nicht wüsste, aber dass sie es lieber nicht tun sollte. „Vielleicht gehört das Grundstück ja einem alten, bösen Mann, und wenn er sieht, wie du über den Zaun kletterst, zieht er dir die Ohren lang!“, hatte sie immer gewitzelt. Dabei war es kein Grundstück, da war sich Enya sicher. Wer wollte denn schon einen umzäunten Abflusskanal besitzen?
Sie überlegte, ob sie nicht zumindest versuchen sollte, über den Zaun zu klettern.
Ja, tu es!, sagte eine Stimme in ihr.
Nein, lass es; du weißt nicht, ob es gefährlich ist! Außerdem willst du doch keinen Ärger, oder?, hielt die andere dagegen.
Enya runzelte nachdenklich die Stirn. Die zweite Stimme hörte sich eindeutig vernünftiger an.
Sie hörte auf die erste.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass es einfach wäre, über einen Zaun zu klettern. Aber nach einigen Versuchen hatte sie den Dreh heraus (man musste seine Füße quer durch die Lücken stecken und dann ein Bein auf die andere Seite schlagen), und flink wie ein Affe hangelte sie sich den Zaun hinauf und landete sicher auf der anderen Seite. Wenn mich jetzt meine Klassenkameraden sehen würden!, dachte Enya belustigt. Aber darum ging es ihr gar nicht. Sie war einfach nur neugierig.
Sie lief an der rechten Seite entlang und achtete darauf, nicht in das Rinnsal aus trübem Wasser, in dem verwelktes Laub und Unrat schwammen, zu treten. Langsam kam sie dem Tunnel näher. Es war dunkel darin, und er besaß eine große Ähnlichkeit mit dem geöffneten Maul eines wilden Tieres.
Schließlich betrat sie die gähnende Finsternis und fröstelte. Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen und ließ die kleinen Haare senkrecht stehen.
Der Tunnel streifte ihren Kopf. Er war gerade groß genug für sie, um darin aufrecht zu laufen. Ein Erwachsener musste sich darin bestimmt gebeugt bewegen. Sie hörte, wie Wasser tröpfelte, und sehnte sich plötzlich nach Hause oder zumindest auf den Waldweg zurück.
Dann wurde es heller. Die frische Luft empfing sie wie ein flauschiger Mantel. Das Sonnenlicht blendete sie, sodass sie ihre Augen zunächst zukniff.
Langsam, als sie sich an das Licht gewöhnt hatte, öffnete Enya sie wieder und keuchte vor Erstaunen. Sie zwickte sich in den Arm, nur um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte. Danach rieb sie sich lange die Augen, aber die geheimnisvolle, fantastische Welt blieb.
Rund um sie herum standen etliche Bäume. Neben den gewöhnlichen einheimischen Bäumen gab es jedoch auch eine seltsame andere Art. Enya schätzte sie etwa doppelt so groß wie die einheimischen Bäume. Ihre Stämme ähnelten denen von Birken, doch das Erstaunlichste waren die Blätter: Sie waren violett und glänzten in einem unnatürlichen Ton.
Der Boden widerum war übersät mit bunten, bizarren Blumen und Pilzen, die in allerlei Farben schimmerten. Hüfthohe, eigenartige Gräser bewegten sich im Wind.
Enyas Atem beschleunigte sich, als sie den Ruf eines fremden Tieres hörte.
Angst packte sie. Was ist das für ein seltsamer Ort? Schnell drehte sie sich um, um auf dem schnellstmöglichen Weg den Rücktritt anzutreten. Doch ihr entfuhr ein Klagelaut.
Dort, wo sich noch bis vor kurzem der Steintunnel befunden hatte, gab es jetzt unzählige Bäume. Lediglich das Wasserrinnsal war geblieben. Es wurde nach hinten hin breiter und floss weiter in den Wald hinein.
Enya fiel in sich zusammen wie ein Sack Kartoffeln. Einen Moment hockte sie vor Schreck gelähmt auf dem Boden, unfähig, sich zu bewegen.
Auf einmal vernahm sie ein Rascheln.
Enya gab sich einen Ruck und stand auf. Vor ihr bewegte sich etwas im Gras.
Warum bin ich bloß über den Zaun geklettert?, fragte sie sich wütend. Wie soll ich je wieder den Weg nach Hause finden?
Die Grashalme vor ihr teilten sich. Egal, was sich auf sie zubewegte- es kam stetig näher. Enya wäre am liebsten weggerannt, doch ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Sie lauschte ihrem Herzschlag, der sich zusehends beschleunigte und in ihren Ohren pochte. Was für ein doofer Tag, dachte sie noch, da sprang das Geschöpf sie an.
Enya trat um sich und traf etwas Weiches, das in hohem Bogen durch die Luft flog, gegen einen Baum prallte und wie ein Häufchen Elend liegen blieb.
Vorsichtig und mit pochendem Herzen trat sie über den kleinen Fluss hinweg und kam dem sich mühsam bewegenden Haufen Fell langsam näher. Das Geschöpf drehte sich umständlich herum und blickte sie an. Ein Laut des Erstaunens entwich Enya: Es handelte sich um ein Wesen, wie es niemals in der Welt hätte existieren können, die sie vor wenigen Minuten verlassen hatte.
Es sah nicht sonderlich gefährlich aus. Die Kreatur kam ihr ungefähr bis zur Hüfte, war rund wie ein Ball und hatte ein weißes, dichtes Fell. Außerdem hatte sie zwei große, kastanienbraune Augen und eine etwas kleinere, runde braune Stupsnase. Der Mund war winzig klein und dünn wie ein Strich. Irgendwie erinnerte das Wesen Enya an die Mona Lisa; sie konnte nicht einschätzen, ob das Geschöpf leise lächelte oder die Mundwinkel um wenige Grade nach unten verzogen waren.
Dann stutzte sie, als sie etwas bemerkte, oder besser gesagt nicht bemerkte: Es fehlten die Arme. Dort, wo sie eigentlich sein sollten, wuchs wie an den anderen Stellen flauschiges Fell.
Die Beine widerum waren durch kurzes, braunes Fell gekennzeichnet; das der Füße jedoch war weiß und wollig.
Während Enya den Fellball begutachtete, richtete sich dieser auf, was etwas länger dauerte, da er keine Arme zum Abstützen besaß. Als er auf beiden Beinen dastand und das Mädchen sah, zuckte er abrupt zusammen.
Enya verharrte, ging in die Hocke und streckte einen Arm aus, um das Tier anzulocken. Ist es überhaupt ein Tier?, fragte sie sich. Es scheint aus einer anderen Welt zu stammen! Aber in ihren Augen bedeutete die harmlos scheinende Fellkugel keine Gefahr.
Das Wesen starrte verwirrt auf Enyas Hand. Dann murmelte es mit leiser Stimme in einer fremdem Sprache: „Waragas! Vorsolo Ik Set, Tat Sche Nirgos Plett!“
Enya stolperte einen Schritt zurück. „Du kannst sprechen?“
Das Wesen legte den Kopf schief. „Aber ja! Häufig spreche ich in der Sprache, die hier üblich ist, aber ich spreche auch Hunderte andere. Es ist nicht so, dass ich hyperintelligent bin, aber wenn einem so viel Zeit zur Verfügung steht wie mir, warum soll man sie dann nicht sinnvoll nutzen?“
Enya zwickte sich ein weiteres Mal in den Arm. „Es ist alles nur ein Traum! Du wirst gleich aufwachen, und alles wird so sein, wie es vorher war!“
„Da muss ich dich enttäuschen. Du befindest dich in Dragosia. Soweit ich weiß, ist das kein Traumland“, meinte die Fellkugel und zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Und ich bezeifle auch, dass du unter Wahnvorstellungen leidest.“
Enya brachte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Dragosia? Das gibt es doch gar nicht. Kannst du mir sagen, wie ich wieder nach Hause komme?“
„Ich habe dich nicht tagelang in der Menschenwelt verfolgt, nur um mich auf unhöfliche Art und Weise abwimmeln zu lassen“, erwiderte das Geschöpf verächtlich. „Das ist und bleibt Dragosia. Und nur Drago verfügt über die Fähigkeit, das Tor zur Menschenwelt erscheinen zu lassen.“
Enya kochte innerlich vor Wut: „Ach ja? Und wer ist dieser Drago?“
Das Wesen setzte sich auf einen Felsen und ließ die Beine baumeln, ohne zu antworten.
„Mist! Warum musste ich über den dämlichen Zaun klettern? Warum war ich bloß so dämlich?“, zischte Enya.
Schlagartig hatte sie eine Eingebung. Hastig wühlte sie ihr Handy aus ihrem Rucksack, wählte die entsprechende Telefonnummer und lauschte hoffnungsvoll, ob jemand abnehmen würde.
„Hallo?“, fragte Enya hoffnungsvoll.
„Enya?“, hörte sie die Stimme ihrer Schwester. „Was willst du?“
Enya seufzte erleichtert auf. „Ich bin in den Wald gelaufen, und dann bin ich durch diesen alten Tunnel gelaufen. Du weißt schon, am Rande des-“
„Jaja. Und?“
„Also… Ich bin in Dragosia gelandet!“, platzte es aus ihr heraus.
„Draga-was?“
„Dragosia! Das hat jedenfalls ein weißer Fellball gesagt.“
„Welcher weiße Fellball?“
„So ein seltsames Wesen… Du, Franzi, hier gibt es Bäume mit violetten Blättern!“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Nein. Aber ich weiß nicht, wie ich wieder zurückkommen kann.“
„Aha. Ich dachte, der erste April ist schon vorbei, Enya.“ Violas Stimme nahm einen ungeduldigen und zugleich genervten Ton an.
„Nein! Ich scherze nicht!“ Enya spürte, wie Unbehagen und Missmut von ihr Besitz ergriffen. „Ich. Will. Doch. Nur. Nach. Hause!“
„Schon gut. Wir sehen und beim Mittagessen.“
„Du musst mir helfen!“
„Tschüss, Enya.“
„Nein…“
Doch es war bereits zu spät. Viola hatte aufgelegt.

Lies weiter

Fortsetzung folgt in Kürze....