Adieu Luftwort

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Libelle, 13 Jahre

Nie hätte ich gedacht, dass einem so kalt werden kann.
Wir standen auf dem glänzenden, schwarzen Bürgersteig und betrachteten Lichter in der Ferne, die den Nieselregen, der wie eiskalte Nadelstiche auf uns herabfiel, im Dunkeln aufblitzen ließen.
Ich trug eine dünne Stoffjacke und darüber meine Trainingsjacke, die Catherine abgelehnt hatte, als ich sie ihr angeboten hatte – ob aus modischen Gründen oder aus Höflichkeit, wusste ich nicht. Doch das war auch egal – der kalte Wind hatte uns alle Wärme aus den Körpern gesaugt und wir hätten genauso gut im Bikini an dieser Bushaltestelle stehen können, an der wir jetzt auf den warmen, stickigen, trockenen Bus warteten, der schon zwanzig Minuten Verspätung hatte. Kälter ging es einfach nicht. Gut, das hatten wir vor einer halben Stunde auch geglaubt und es hatte sich als Fehleinschätzung entpuppt, aber egal.

Catherine, so hieß meine Austauschpartnerin. Wir beide kamen wirklich wunderbar miteinander aus, obwohl wir so unterschiedlich waren, wie es nur ging. Sie war klein und dünn, während ich groß und normal war, war mit jedem befreundet, im Gegensatz zu mir, die ich wenig Freunde hatte. Man könnte Jahre lang erzählen, worin wir uns unterschieden: Sie war modisch gekleidet (cooler ging es nicht), ich hatte meinen ganz eigenen Stil; sie schminkte sich, und ich trug niemals Makeup. Ihre Haare waren lang und lockig, und sie türmte sie in sekundenschnelle zu wundervollen Frisuren auf, während ich meine glatten, dünnen Haare meistens in sekundenschnelle… nun ja, zu einem kurzen Pferdeschwanz knotete. Unsere einzige Gemeinsamkeit war, dass wir so gut wie immer gut gelaunt waren, uns gegenseitig wirklich gerne mochten und eine Menge Spaß an dem einwöchigen Schüleraustausch hatten, an dem die ganze Klassenstufe teilnahm.

Schlotternd zog ich die durchnässten Jacken enger um meinen Körper, und mein Blick wanderte von den Straßenlaternen und den Geschäften in der Ferne zu ihr. Der wohl offensichtlichste Unterschied zwischen uns war nämlich: Ich war ganz hübsch, sie war perfekt. So perfekt, dass alle Mädchen, die mitbekamen, dass sie meine Austauschschülerin war, einen ungläubigen, faszinierten Gesichtsausdruck bekamen und die Jungs fragten, ob das „die Hübsche“ sei. Und wenn jemand nicht wusste, wer meine Austauschpartnerin war, beschrieben alle sie mit: „Das ist die Wunderschöne.“ Die meisten reduzierten sie nur auf ihr Aussehen, das ärgerte mich ein bisschen. Niemand sagte: „Du hast Glück! Catherine ist richtig nett!“ Nein, immer nur: Sie ist ja so schön, so hübsch, hat so tolle Haare und so perfekte Haut, ist dünn und so hübsch und so schön und bla bla bla. Niemand schien zu merken, dass sie wirklich eine unglaublich nette Person war.

Aber was soll’s. Ich war froh, dass sie so freundlich war und ihr Aussehen brachte doch auch einige Vorteile mit sich: Wenn ich sie morgens weckte, schlug sie die Augen auf und sah sofort aus wie ein Topmodel, bloß besser gelaunt und natürlicher. Besser als ein Topmodel. Sie hätte sich nicht schminken brauchen, tat es aber trotzdem. Was toll daran war? Neben so jemandem brauchst du dich nicht um dein Aussehen kümmern. Du kommst nicht an sie ran, und es achtet sowieso niemand auf dich. Neben ihr haben alle Mädchen eins gemeinsam: Sie sehen stinknormal aus. Und das war wunderbar entspannend. Es war relativ egal, was man anzog, wie man aussah, wie viele Pickel man hatte, wie die Haare aussahen, ob man sich schminkte. Mir jedenfalls war es egal. Sie sah doch sowieso viel besser aus.

Um ihr eine Freude zu machen, sagte ich ihr das jetzt.
Na ja, nicht das alles. Aber so viel, wie mein Französisch zuließ. Sie sah überrascht aus.
„Quoi? Non! Moi, je suis moche! Mochemochemochemochemoche!“
Ich weiß nicht, was „moche“ heißt, aber ich weiß, dass „je suis“ „ich bin“ heißt, und so konnte ich mir denken, was sie sagte. Lachend schüttelte sie den Kopf wild hin und her, sodass ihre Locken ihr ins Gesicht klatschten. Sie war vollkommen überzeugt – aber es war ihr gleichgültig, wie „hässlich“ sie war. Nichts konnte ihre gute Laune trüben.

Catherine beugte sich vor und deutete auf ihre Augenbraue. Ich beugte mich ebenfalls vor und kniff die Augen zusammen. Ah, ja, das meinte sie. Eine winzig kleine, perlmuttfarben schimmernde Narbe. Dann zeigte sie auf ihre Wange. Auch hier eine kleine, perfekte Narbe, die mir vorher noch nie aufgefallen war. Ich rollte mit den Augen und tippte auf die fünf leuchtend roten, dicken Pickel, die in meinem Gesicht verteilt waren. Sie runzelte die Stirn und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Das sieht man gar nicht. Du bist hübsch, aber ich, ich bin hässlich. Ich finde, meine Freundin Laure ist wunderschön. Du kennst sie, oder?“

Ich nickte, konnte aber nichts mehr erwidern, denn der Bus war gerade hinter uns zum Stehen gekommen. Mit einem Zischen glitten die Türen auf und ein Schwall heißer, trockener Luft kam uns entgegen. Wir stiegen schnell ein, ich kaufte uns Fahrkarten und wir ließen uns erleichtert auf die warmen Sitze fallen. Wir schwiegen. Das taten wir öfter. Man kann nicht die ganze Zeit eine Sprache sprechen, die man kaum versteht.

Ich starrte durch die schmutzige Scheibe hinaus ins Dunkle, wo die Lichter an uns vorbeiflitzten und sah mein nachdenkliches Spiegelbild. Schönheit, dachte ich, ist wirklich für jeden etwas ganz anderes. Laure zum Beispiel hat ein glänzendes Gesicht und platte Haare, aber ich verstehe, was Catherine an ihr hübsch findet. Alle finden Catherine göttlich schön - sie ist ja auch perfekt - aber so lange sie das nicht findet, bringt es ihr auch nichts. Für sie ist ein narbenloses Gesicht schön.

Wer sagt, Aussehen sei nicht wichtig, ist ein Träumer. Wenn man einen Menschen das erste Mal sieht, entscheidet man innerhalb einer Sekunde, ob man ihn mag. Wer soll da bitte den wahren Charakter erkennen. Aber “schön“ kann man gar nicht sein, schön ist ein Wort ohne richtige Bedeutung. Ein Wort, das nichts heißt, aber trotzdem Selbstbewusstsein zerstören und Eitelkeit hervorholen kann. Ein starkes, bedeutungsloses Wort, mehr Gefühl als Wissen, mehr Schmerz als Freude. Geliebt, so sollte ein Körper doch aussehen. Schönsein ist Unsinn. Denn jeder findet etwas anderes schön.

Und vielleicht… vielleicht sieht man meine Pickel ja doch nicht so sehr, wie ich immer glaube. Überhaupt, Pickel sind doch nebensächlich. Wer darf mir eigentlich vorschreiben, was ich schön zu finden habe?
Ich sehe mich im Bus um. Plötzlich sehen für mich alle Gesichter wunderbar aus. So einzigartig. Keins ist mehr oder weniger hübsch als das von Catherine. Jeder ist auf seine eigene Art der Schönste.
Ich schaue wieder zum Fenster.
Und sehe, wie sich langsam ein Lächeln im Gesicht meines Spiegelbilds ausbreitet.