Blätter im Herbst

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Lea, 14 Jahre

Es ist kalte durchdringende Angst, die mich zum Schwitzen bringt, dafür sorgt, dass meine Hände sich ineinander verkrampfen, mein Mund sich trocken anfühlt und meine Gedanken rasen ohne Halt zu finden. Neben mir höre ich Schluchzen, Wimmern, aber niemand spricht. Neben mir kauern Menschen, so wie ich, voller Angst, voller Ungewissheit, mit Augen, deren Funkeln verschwunden ist, mit Lippen, die kein Lächeln mehr formen werden, formen können. Mit Menschen, die alles in sich eingraben, ihre Furcht, ihr Flehen nach Erlösung, nach einer Entscheidung, die sie selbst nicht treffen können, die über sie getroffen wird. Und obwohl wir eine Masse sind, ist jeder von uns allein. Wir sind Konkurrenten, irgendwie. Vor mir steht ein Mädchen, in einer anderen Schlange, einer endlosen Reihe, deren Ende ich nicht sehen kann und deren Anfang, deren Ausgangspunkt ich nicht sehen will. Sie kommt mir bekannt vor, erinnert mich an irgendjemand, an viele. Sie erinnert mich an meine Freundin, meine Cousine, aber vor allem an mich selbst. Die Art wie sie steht, in sich zusammengefallen, gebückt, ein blasser Schatten eines ehemals aufrechten stolzen Ganges, ein wenig spöttisch. Die Art, wie sie aussieht, groß und schlank, mit langen anmutigen Beinen, dünnen Oberschenkeln, straffem Po, flachem Bauch, schöner, wohlgeformter Brust, nicht zu groß, nicht zu klein, dünnen Ärmchen, um die das T-Shirt herum schlottert. Man kann ihr die Stunden im Fitnessstudio ansehen, die Stunden, in denen sie alleine früh morgens durch den Wald joggte auf der Jagd nach einem besseren Ich. Ich kenne sie, weil ich mich selbst kenne. Ich sehe ihr ähnlich. Und dabei habe ich ihr nicht einmal ins Gesicht geschaut. Als ob das unwichtig wäre. Dabei ist das Gesicht doch das Einzigartige an uns. Und trotzdem werden wir immer gleicher. Ich erinnere mich an den Deutschunterricht, damals, als wir gelernt hatten, dass sich gleich nicht steigern lässt. Wir lagen so falsch. Meine Hand gleitet wie mechanisch in meine Tasche, zieht meinen Taschenspiegel heraus. Ich bekomme es kaum mit, bin viel zu gefangen in meiner stumpfen Wahrnehmung, die nichts anderes zulässt als ein paar Schritte und dem langen Verharren auf einem Fleck, stumm und zusammengesackt, gebrochen als gäbe es weiter oben keine Luft mehr zu atmen. Der Spiegel schiebt sich in mein verschwommenes Blickfeld. Tränen, die unaufhaltsam über meine Wangen laufen, die ich es leid bin wegzuwischen, die ich kaum noch bemerke, so normal sind sie geworden, lassen mich alles nur unscharf sehen bis ich ein paar Mal blinzle und meine Sicht wieder klarer wird. Der Spiegel zeigt mich, mich wie tausend andere. Nichts besonderes, wo ich doch besonders sein will. Die Nase ist korrigiert, damit sie eine bestimmte Form hat, so wie alle anderen Nasen auch, das Gesicht zur Maske umfunktioniert, damit es den richtigen Teint hat, die Lippen voll und rot, damit sie verführerisch aussehen und die Augen. Große, braune Augen, die, wenn ich lache oder mein Gesicht verträumt in die Sonne halte, kleine rote und goldenen Sprenkel bekommen wie Blätter im Herbst. Ich denke daran, dass ich nie wieder den Herbst sehen werde. Seine bunte Pracht. Nicht mal mehr in meinen Augen kann ich sie finden, wo sie sonst immer war, versteckt, immer bereit mich besonders zu machen wenn ich lachte. Aber ich lache nicht mehr. Niemand tut es mehr. An mir drängt sich eine Frau vorbei, klein, stämmig, die Haut wie zermürbt von Bächen aus Tränen, die ihr Gesicht beherrschen, aber sie ist es nicht, die schreit und weint, laut und unverhohlen. Sie zieht einen kleinen Jungen hinter sich her. Man kann ihr ansehen, dass sie um ihn weint, nicht um sich selbst. Sie tut mir leid, der Junge tut mir leid, die anderen, ich. Alle tun mir leid. Und während ich dastehe, nicht mehr wirklich existiere, sondern nur noch dastehe, teilnahmslos, fast schon wie eine Statue, bewegt sich die Schlange immer weiter nach vorne, zieht mich mit. Ich weiß nicht, ob es Stunden sind oder Minuten, ob ich Hunger habe oder Durst. Eine tiefe Leere, obwohl ich mich doch nach Gefühlen sehne, die mir zeigen, dass ich noch ich bin. Dass ich eine Chance habe. Das Mädchen, das mir vorher schon aufgefallen war, ist an der Reihe. Sie zittert am ganzen Leib, wird gestützt, weil sie selbst nicht läuft, nicht laufen kann oder nicht laufen will. Ich weiß genau, was jetzt passiert. Und als sich die Aufzugtüren schließen, ihre traurigen, flehenden Augen noch einmal die ganze Halle mit ihren Blicken einfangen, versuchen die ganze menschliche Pracht zu erfassen, sie zu bewahren, sie überhaupt erst zu begreifen, stockt mein Atem. Ich weiß, dass sie nicht wiederkommen wird. Ich warte. Warte, habe das Gefühl zu ersticken, traue mich aber auch nicht tief einzuatmen, warte weiter. Bange, ängstlich und doch irgendwie leer, versuche ich mich noch einmal an den Herbst zu erinnern, an die bunten Blätter, die zu Boden segelten wie Tänzer, wie Kinder, die im Spiel umeinander herumtollen. Bunt, irgendwie fröhlich und gleichzeitig so gar nicht perfekt, am Rand ihres Todes oder eigentlich schon tot. Und jedes einzigartig. Ich versuche mich an Zeiten zurückzuerinnern, in denen ich mich noch mit diesen Blättern vergleichen konnte, mit diesem Gefühl. Nur noch ein Mensch vor mir, gesichtslos wirkt er auf mich. Ich sehe ihn und sehe doch nichts. Meine Schritte scheinen plötzlich dumpf, hohl, hallen von den hohen Wänden wieder, ein Echo, das nur ich hören kann. Sie würden mich nicht auswählen. Sie würden mich töten. Sie sagten, man müsse das Besondere erhalten, das Einzigartige, das Beste in uns. Und dafür müsse man Opfer bringen. Ich weiß, dass ich nicht besonders bin. Nicht besonders, wie sie es haben wollen. Ich weiß, dass ich aussehe wie zehn oder hundert Andere auch, ich weiß, dass ich fühle wie hunderte, tausende Andere, ich weiß, dass ich genau so enden würde wie Millionen Andere. Sie sagten, die Vergangenheit sei falsch und schlecht, sei voll von Bösem gewesen, voll Gier, voll Krieg, voll Waffen, voll falschen Idealen. Sie wollen eine perfekte neue Welt. Perfekt. Sie streben Perfektion an. Wie ich. Damals. Wie meine Freunde. Damals. Wie alle anderen. Damals. Bevor es passierte, bevor wir gehen mussten. Schlanker, fitter, dünner, hübscher, vollkommener musste unser Körper werden. Und jetzt will uns niemand mehr. Jetzt ist Perfektion anders. Jetzt ist Perfektion etwas, das sie messen, das sie an unserem Charakter bestimmen, an unseren Gefühlen, an unseren Fähigkeiten, etwas, das uns zu größeren, weiseren, mutigeren oder klügeren Menschen macht. Etwas seltenes, mit dem sie die Menschheit retten wollen. Als der Mann vor mir in den Aufzug tritt, sein Blick genau wie der des Mädchen zuvor, plötzlich nicht mehr leer und stumpf ist, sondern voller Leben, alles in sich aufnimmt, verzückt, seine Augen zu glänzen beginnen, zu strahlen, voll von traurigem Glück, Glück, das man nur empfinden kann, wenn es der letzte Moment ist. Ich straffe mich, spüre wie ich zu wachsen scheine, wieder aufrecht stehe, so stehe wie ich immer stand, wie ich mich ganz normal fühle, mir die Tränen aus den Augen wische, mir dieser Bewegung plötzlich so bewusst bin wie noch nie zuvor, wie ich lächele, ein bitteres, kleines Lächeln über die Ironie des Schicksals, über die Dummheit der Anderen. Über ein Streben nach Perfektion, das man nur verlieren kann, über Einzigartigkeit, die man messen kann, über das Gleichmachen von Besonderem und über die absurde Steigerung von gleicher. Dann öffnen sich die Aufzugtüren, schieben sich auseinander wie ein Vorhang zum letzten Akt. Ich gehe, nehme jeden einzelnen Schritt wahr, spüre jeden Muskel, jede Sehne, jede Haarspitze, jeden Atemzug. Ich betrete den Aufzug, weiß, mit einer Glasfront zu meiner Linken und einem großen Spiegel zu meiner Rechten. Ich drehe mich um, sehe die Halle, in der ein Meer aus Menschen wogt, sehe tausende Gesichter, die plötzlich alle so unterschiedlich sind. Ich sehe traurige Augen, nicht mehr stumpf und fahl, sondern bunt, blau ist nicht mehr blau, sondern hell und dunkel, aquamarin und türkis, bevor sich die Aufzugstüren schließen. Wenn ich aus der Glasfront blicke, sehe ich den Herbst, wie die bunten Blätter fallen, ich sehe mich im Spiegel, wie ich lache. Und als ich mich umdrehe begreife ich, dass es kein „gleicher“ gibt und keine Perfektion, dass ich in diesem Augenblick anders bin als alle Anderen, dass ich glücklich bin. Glücklich, den Herbst gesehen zu haben, mein Lachen gehört zu haben, glücklich, dass ich überhaupt Glück empfinde, glücklich, weil ich nicht allein gewesen bin in meinem Leben. Und während ich darüber lache, dass ich alles habe, erreiche ich mein Ziel.

Autorin / Autor: Lea, 14 Jahre