Die ersten vier Seiten

Lektoren erkennen bereits anhand von vier Seiten, ob das Manuskript Potential hat, ob der Plot interessant ist, ob die Charaktere gut ausgearbeitet sind etc.

Lesen, Bild: LizzyNet

Normalerweise heißt es, dass die ersten zwanzig, vielleicht auch dreißig Seiten eines Manuskripts eingereicht werden, nicht etwa die besonders spannende Stelle, die auf Seite vierundfünfzig oder zweiundsechzig ist. Warum die Lektoren das Manuskript von Anfang an lesen möchten, liegt daran, dass sie sehen wollen, ob es dem Autor gelingt, potentielle Leser schon auf den ersten Seiten zu begeistern. Viele Schriftsteller haben längst erkannt: Die ersten Seiten entscheiden darüber, ob die unverlangt eingesandte Arbeitsprobe vom Lektor überhaupt komplett gelesen wird. Denn Lektoren erkennen bereits anhand von vier Seiten, ob das Manuskript Potential hat, ob der Plot interessant ist, ob die Charaktere gut ausgearbeitet sind etc.

Während Lektoren einem Manuskript die Chance geben, mit lediglich vier Seiten zu überzeugen, legt der Leser in der Buchhandlung den Roman zurück ins Regal, wenn es ihn nach nur einer Seite nicht packt. Schließlich warten in der gesamten Buchhandlung mindestens zwanzig, dreißig weitere Bücher mit farbenfrohen, frappanten Buchumschlägen und reißerischen Titeln darauf, dass der Leser einen Blick in sie wirft. Natürlich gibt es Querleser, die es nicht nur bei den ersten Seiten belassen, sondern den Roman mal in der Mitte oder in der zweiten Hälfte aufschlagen, um einen kleinen Einblick zu gewinnen, wie es ist, wenn der Ball ins Rollen gekommen ist. In der Regel jedoch fangen die Meisten an, die erste Seite zu lesen, und bilden sich bereits ein Urteil, das natürlich durch weitere Leseproben noch geändert werden kann.

*Reiß die Wand ein!*
Grundsätzlich raten Autoren von Schreibratgebern, sich in eine Figur hineinzuversetzen, die die Anfangsszene intensiv erlebt. Diese Figur muss nicht zwangsweise der Protagonist oder die Protagonistin des Romans sein, sondern kann eine wichtige Nebenfigur sein.
Dadurch, dass man den Leser alles aus der Sicht einer Person erleben lässt, zieht man ihn in das Geschehen.¹ Wichtig ist, dass der Leser in die Haut von jemandem schlüpft, dem Ärger droht, oder der etwas Wundervolles erlebt, oder dessen Leben in Gefahr ist. Der Autor muss den Leser erleben lassen.²

Per e-Mail habe ich mich an den Autor Andreas Eschbach gewandt, weil sich Herr Eschbach intensiv mit dem Thema Schreiben beschäftigt und auf viele erfolgreiche Romane zurückblickt. Seine Homepage und seine Tipps haben mir sehr oft geholfen. In der e-Mail schrieb Herr Eschbach: „Die meisten [Romane] fallen nicht nur mit der Tür ins Haus, sie reißen noch die halbe Vorderfront mit ein. In medias res. Die langatmigen Einstiege, die zu Zeiten Theodor Fontanes okay waren, sind es heute nicht mehr.“

Was er damit meint, ist nicht unbedingt die tickende Bombe, die der Protagonist innerhalb kurzer Zeit entschärfen muss, auch nicht zwangsweise eine blutige Schlacht oder eine Explosion. Es geht darum, dem Leser die Arbeitsprobe schmackhaft zu machen, indem man einen interessanten Einstieg in das Geschehen bietet und – vor allem - den Protagonisten oder die Protagonistin sehr gut charakterisiert. Um dem Leser eine Figur vorzustellen, empfiehlt Herr Eschbach, „nach einer Szene zu suchen, die gleich den richtigen ersten Eindruck von dieser Figur liefert - eine kleine »Schlüsselszene« ...“

*Ein Beispiel:*
Wenige Meter, wenige Sekunden entschieden über ihre Zukunft. Mira mobilisierte ihre Kräfte. Ihre Muskeln brannten. Noch schneller! stachelte sie sich in Gedanken an. Das Ziel ist schon ganz nah!
Ein stechender Schmerz im Fuß. Die Konkurrentinnen überholten sie, steuerten auf das Ziel zu. In blindem Zorn versuchte Mira, sie einzuholen. Vergeblich.
Ihre Gegnerinnen passierten vor ihr das Ziel.
Mit einem Mal war es vorbei.
Nachdem sie die Ziellinie übertreten hatte, verlangsamte Mira ihren Schritt. Sie lief geradeaus, vorbei an Menschen, die jubelnd zur Siegerin eilten. Wut und Enttäuschung brandeten über Mira herein. Fluchend trat sie eine leere Plastikflasche, die im Gras lag.
An diesem Tag hatte Mira alles für möglich gehalten. Als Siegerin des Wettrennens hätte ihr als zukünftigen Berufssportlerin nichts im Wege gestanden. Doch nun würde sie in weniger als einer Stunde in die Altbausiedlung zurückkehren. Da, wo sie hingehörte, wie ihr Vater spöttisch bemerkte, wenn sie von anderen Städten träumte. In die Siedlung, in der schmucklose, triste Hausfenster müde gähnten, und der Geruch frittierter Pommes und fettiger Bürger durch die Straßen wehte, das Haar und die Kleidung durchtränkte und sie an jedem Ort stets daran erinnerte, woher sie kam.

In diesem Beispiel erfährt der Leser, dass die Protagonistin Mira an einem Wettkampf teilnimmt, der ihre Zukunft in hohem Maße beeinflusst. Schon auf der ersten Seite kristallisiert sich Miras größte Hoffnung, nämlich der Armut zu entfliehen, klar heraus. Für Mira ist der Lauf ein bedeutendes Ereignis. Ihr Traum rückt jedoch in die Ferne, da ihre Konkurrentin den ersten Platz belegt.
Da der Leser starke Figuren kennenlernen will, fragt er sich, wie und ob Mira es schafft, ihr Ziel zu erreichen.

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¹ Roentgen, Hans Peter, [style type="italic"]Vier Seiten für ein Halleluja, [/style]2008, Sieben-Verlag Ldt., S. 10 ff.

² S. 34 f.

Autorin / Autor: Carolina Hein