Sünde

Autorin: Megan Campisi
Aus dem Amerikanischen von Leena Flegler

Megan Campisis Roman Sünde spielt im England des 16 Jahrhunderts - so zumindest steht es im Klappentext. Ohne diese Information hätte es nicht wirklich einordnen können, denn die Figuren sind allesamt fiktiv und nicht historisch. Dem Cover nach hätte es nun einer dieser typischen Mittelalterkrimis sein können oder auch ein fantasyangehauchter historischer Roman. "Sünde" hat von beidem ein bisschen, ist aber viel mehr.

Die junge Anna Owens ist bettelarm und wird dabei erwischt, wie sie einen Laib Brot stiehlt. Ihre Strafe fällt aber ungewöhnlich aus. Sie wird nicht eingesperrt oder hingerichtet, sondern dazu verdammt, als Sündenesserin ihr Dasein zu fristen. Sündenesser:innen gab es tatsächlich, es waren Menschen, die angeheuert wurden, um Menschen auf dem Sterbebett ihrer Sünden zu entledigen, indem sie symbolische Speisen für jede Sünde verzehren. Senfsaat für Lüge, Weinbeeren für außereheliche Empfängnis, Schweineherz für Tötung aus Raserei...

Auch wenn Anna nun definitiv keinen Hunger mehr leiden muss, ist ihr Leben schrecklich. Sie trägt von nun an ein Eisen um den Hals, das sie als Sündenesserin ausweist, ihre Zunge wird gebrandmarkt und sie darf nicht sprechen, außer die rituellen Sätze, die jedes Sündenessen begleiten. Sie wird gefürchtet und gemieden wie eine Aussätzige und verbringt Tag für Tag am Bett von Sterbenden. Einzig die Sündenesserin, die sie ausbildet und bei der sie wohnt, gibt ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Als die beiden Sündenesserinnen in den Palast gerufen werden und dort eine Sündenspeise serviert wird, die gar nicht gebeichtet wurde, werden sie unfreiwillig in eine Palastintrige hineingezogen, in die auch die Königin involviert ist, Giftmorde inklusive. Klar, dass das die beiden Sündenesserinnen in Lebensgefahr bringt.

Auch wenn es hier um Giftmorde, Ränke und Machtspiele geht, steht die wendungsreiche (und nicht immer ganz leicht nachvollziehbare) Krimihandlung ebenso wenig im Vordergrund wie das historische Setting (das allerdings sehr gelungen und stimmungsvoll ist). Vielmehr geht es darum, wie Anna sich von ihrem Joch befreit, wie sie gegen die ihr auferlegten Pflichten und ihre Ausgrenzung aufbegehrt und zu einem eigenständig denkenden und selbstbestimmt handelnden Menschen wird. Eine zeitlose Selbstermächtigungsgeschichte, die zu jeder Zeit und überall spielen könnte.

Ich habe das Buch nicht im Original gelesen, sondern in der deutschen Übersetzung (Leena Flegler). Ich kann darum nur sagen, dass ich das Buch zumindest in seiner deutschen Version sprachlich großartig fand. Kurze prägnante Sätze, die einen nicht selten auch zum Lachen bringen. Stimmungsvoll, bitter, konkret, düster und zeitlos. Das Buch lässt sich in einem Rutsch durchlesen, ohne dass es wie so mancher Pageturner dann auch gleich wieder in Vergessenheit gerät. Ich denke, es wird mich wegen des außergewöhnlichen Settings und der gleichzeitig finsteren wie ermutigenden Geschichte gedanklich noch lange begleiten. Dass ich manche Nahrungsmittel nun mit bestimmten "Sünden" assoziiere, ist ein kurioser Nebeneffekt ;-).

Tolles, sehr atmosphärisches Buch, das unterschiedliche Geschmäcker bedienen kann und definitiv kein Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Buch ist.


*Erschienen bei Limes *

Deine Meinung zu diesem Buch?

Autorin / Autor: Merceda - Stand: 7. August 2023