Zwei Leben, ein Tag

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Marianne Kicza (59), Sabine Hamad (52) und Ramona Wenke (38)

Schon wieder zu spät. Gehetzt springe ich aus dem Bett und reiße die Gardinen und dann das Fenster auf. Der tägliche Lärm von Autos, Sirenen und schreienden Menschen schlägt mir entgegen. Der graue Betonklotz von Wohnkomplex gegenüber hat auch bei Sonnenschein nicht mehr Charme als sonst. Abgase strömen durchs Fenster und ich muss husten. Für Frühstück bleibt keine Zeit mehr, eine Zigarette muss reichen. Schon schlage ich die Tür hinter mir zu und eile zur Bahn. Auf der Hauswand des Nachbarhauses haben sich die Ultras unserer Stadt mit einem riesigen Graffiti erneut verewigt. Kurz vor dem Bahnhof dringt mir der altbekannte Uringestank entgegen. Mein Magen dreht sich um. Gut, dass keine Zeit zum Frühstücken war. Jetzt noch schnell durch die Menschenmenge wühlen, die Stufen zum Gleis erklimmen und schon kommt der Zug. Biergestank schlägt mir entgegen und mir wird zum zweiten Mal an diesem Morgen schlecht. Ein aufgeschlitzter Sitz ist noch frei, nachdem ich leere Fastfoodverpackungen auf den Boden gefegt habe. Die Stadt rast an mir vorbei.
Nur zehn Stunden später, in denen mich mein Chef nur angeschrien und gestresst hat, sitze ich im gleichen Zug. Mittlerweile ist es dunkel und Lichter rauschen vorbei. Tasten- und Signaltöne schwirren durch das Abteil. Alle Köpfe sind gesenkt und jeder ist eifrig mit dem Handy beschäftigt.
Huch, hier muss ich raus. Ich springe in die Nacht. Die Obdachlosen sitzen, wie jeden Abend, aufgereiht mit ihrer Flasche Bier vor dem Bahnhof. In der Ferne hört man zwei Personen streiten. Ihre Schreie hallen durch die Straßen. Es dringen nur Wortfetzen an mein Ohr, doch die Parole „ Ausländer raus“ ist deutlich zu vernehmen.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich schon wieder zu spät dran bin. In fünf Minuten müsste ich beim „Alten Germanen“ sein. Chantal wartet sicher schon. Ich haste durch die Einkaufspassage. Hier stehen die meisten Geschäfte schon seit Jahren leer. Chantal sitzt schon mit einem Vodka an der Bar und begrüßt mich lautstark: „Ey Süße!“ Wir sitzen uns gegenüber und schreien gegen die Musik an und verstehen dennoch nur die Hälfte. Nachdem ich mehrere Annäherungsversuche eines Betrunkenen erfolgreich abgewehrt habe, verlasse ich die Kneipe mit dröhnendem Kopf. Da die Laternen mal wieder kaputt sind, ist es stockdunkel.
Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Mein Puls beschleunigt, die Schritte kommen näher. Ich kann nichts erkennen und mein Herz beginnt zu rasen. Ich renne los. Panik steigt in mir auf. Ich stolpere und schlage der Länge nach auf den Asphalt. Alles um mich herum wird schwarz. Mein ganzer Körper schmerzt. Plötzlich spüre ich, wie mir jemand liebevoll über den Kopf streicht. Ich blicke in das Gesicht einer alten Dame. Sie lächelt mich an und reicht mir ihre Hand. „Komm, ich zeige dir meine Welt!“

Alles um mich herum dreht sich.

Schon wieder zu spät. Gehetzt springe ich aus dem Bett und öffne das Fenster. Die Vögel zwitschern wie jeden Morgen und lachende Kinder eilen die Straße entlang. Ich blicke auf das bunt gestrichene Mehrgenerationenhaus gegenüber. Frau Müller sitzt auf ihrem Balkon und winkt zu mir herüber. Lachend winke ich zurück und atme tief die frische Luft ein. Für Frühstück bleibt keine Zeit mehr, ein Apfel aus dem Garten muss reichen.
Kurz vor dem Bahnhof dringt mir der altbekannte Duft von frischem Brot und Kaffee entgegen. Da kann ich nicht widerstehen. „Wie immer, Frau Schmitz?“ Frau Turgut reicht mir einen Kaffee und ein Brötchen. „Danke!“ So, jetzt aber los, da kommt der Zug. Neben zwei Kindern ist noch ein Platz frei. Sie schwatzen fröhlich. Als eine alte Dame in die Bahn steigt, springen sie auf und bieten ihr höflich ihren Platz an.
Nur zehn Stunden später, in denen ich erfolgreich mit meinen Kollegen in unserem Projekt „ Haus der Nationen“ gearbeitet habe, sitze ich im gleichen Zug. In diesem Haus haben wir Familien aus allen Nationen und verschiedene Generationen vereint. Hier kann jeder von den anderen lernen und die Mieter unterstützen sich gegenseitig. Während die älteren den jüngeren viele Tipps und Kniffe rund um den Haushalt geben, übernehmen die jüngeren dafür für sie kleine Aufgaben, wie das Einkaufen. Sie lernen von einander, sitzen beisammen oder entdecken gemeinsam immer wieder neue Rezepte. Niemand ist allein.

Mittlerweile ist es dunkel und Lichter rauschen vorbei.
Huch, hier muss ich raus. Ich springe in die Nacht. In dem Café vor dem Bahnhof sitzen noch viele Menschen zusammen. Überall hört man Menschen lachen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich schon wieder zu spät dran bin. In fünf Minuten müsste ich beim „Alten Germanen“ sein. Özlem wartet sicher schon, heute Abend wollen wir zusammen Darten. Die alte Frau Müller wird auch da sein. Ich haste durch die Einkaufspassage und schaue in die bunten Schaufenster. Özlem wartet schon voller Vorfreude auf mich. Es ist wie immer ein wunderschöner Abend. Einige Zeit später mache ich mich auf den Nachhauseweg. Ich schlendere durch die hell erleuchteten Straßen und genieße die frische Luft der Nacht. Die vielen Blumen entlang des Bürgersteigs riechen betörend. Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Ich schaue mich um und sehe Herrn ElSahin, der mit seiner Frau seinen allabendlichen Spaziergang durch den Park macht. Ich übersehe die Bordsteinkante, stolpere und schlage der Länge nach auf den Asphalt. Alles um mich herum wird schwarz. Plötzlich spüre ich, wie mir jemand liebevoll über den Kopf streicht. Ich blicke in das Gesicht einer alten Dame. „Wer bist du?“ frage ich. „Erkennst du mich nicht? Ich bin du“, lächelt die alte Dame. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie die gleiche Kette wie ich trägt. „Es war so wunderschön“, murmle ich. „Das wird in 35 Jahren deine Welt sein! Alles wird gut!“ Plötzlich ist die alte Dame, mein zukünftiges Ich, verschwunden. Ich rappel mich auf und gehe nach Hause. Im Bett muss ich lächeln und schlafe mit den Worten „ALLES WIRD GUT“ friedlich ein.

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Autorin / Autor: Marianne Kicza (59), Sabine Hamad (52) und Ramona Wenke (38)