Mit der Mocard fing es an

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Elisabeth, 53 Jahre

In der Stadt meiner Träume gibt es in den Wohnungen kein Internet. Wenn ich ins Netz will, gehe ich an die nächste Straßenecke. Jede Ecke ist ein Netspot. Wenn ich nach rechts gehe, stehen an der Ecke drei Holzbänke, da ist immer was los. Wir sitzen dort mit unseren Handys oder Tablets und schwatzen. Aber ich gehe noch lieber nach links, da gibt es Liegestühle und ich bin ein bisschen mehr für mich. Mein Bruder geht am liebsten in den Park, da trifft er alle seine Kumpel, und wenn sie keine Lust mehr haben zu daddeln, spielen sie Fußball. Wenn ich ganz viel Zeit habe, fahre ich mit meiner Mocard ins Zentrum, zum Kreiselspot.

Was die Mocard ist, wollen Sie wissen? Die hat doch jeder! In Städten zumindest. Vor zehn Jahren fing das in Hamburg an. Die haben zwei Prozent von jedem Einkommen kassiert und dafür diese Pflichtkarte ausgegeben. Wie Rundfunkgebühr. Sie berechtigt unbegrenzt zum Öffentlichen Nahverkehr. Bahn, Bus, Stadtrad, Fahrradrikscha und so weiter. Was für eine Empörung damals in Hamburg herrschte. Aber es hat Milliarden in die Kassen des ÖPNV gespült. Die Bahnen fuhren doppelt so häufig, die Busse alle fünf Minuten. Damit begann das Umdenken, denn wer dann noch mit dem Auto fuhr, zahlte nur zu. Als später eine hohe City Maut eingeführt wurde, verkauften fast alle ihr Auto.

Meine Traumstadt ist viel kleiner als Hamburg. Sie liegt aber in der Nähe, nicht weit von der Elbe an einem kleinen Fluss. Als die Hamburger schon längst keine Autos mehr hatten, gab es bei uns noch ganz viele. Besonders die Alten sagten, sie könnten darauf nicht verzichten. Aber als die Parkplätze zu Freizeitanlagen umgebaut wurden – der Parkplatz am Hafen zum Beispiel wurde zu einem Badesee mit Strand – fingen auch sie an, die Autos stehen zu lassen. Denn das Fahrradrikscha-System wurde immer perfekter. Ob zum Arzt oder zum Kaffeeklatsch – jeder wurde gefahren und mit der Mobicard kostenlos.
Alle Wohnstraßen wurden umgewidmet. Ausgenommen die E-Bus-Trassen und die Fahrrad-Schnellstrecken. Hamburg bekam eine U-Bahn-Ringlinie dazu. Wir nur fünf Buslinien. Ich arbeite in Hamburg, da fuhren früher die Bahnen abends nur alle Stunde hin. Nicht mehr vorstellbar. Sobald ich zum Bahnhof komme, ist auch eine Bahn da.

Während ich vom Verkehrskonzept von Anfang an begeistert war, war das beim Internetkonzept nicht der Fall. Ich war es gewohnt, zu Hause immer online zu sein. Meine youtube-playlist dudelte rauf und runter und über Facebook und Whats App war ich mit sieben Gruppen verknüpft. Ohne den Google-Skandal und das Pflegekassendebakel hätte sich daran auch nichts geändert. Aber da war Deutschland konsequent, Google wurde abgestellt. Dann wurden zehntausende Alte rapide zu Tode gepflegt, und es musste ein neues Konzept her. GÜGK. Die Straße bot sich für generationenübergreifende Gemeinsamkeit an. Doch mit fremden alten Leuten  wollte ich nichts zu tun haben. Als das Internet in allen Häusern abgestellt wurde, habe ich sofort einen Flashmob initiiert. Ohne große Resonanz. Ich sah von oben, wie sich die Straßen veränderten: Dächer und Zelte, Heizpilze und Feuerstellen, Spielfelder und Gemeinschaftsküchen, Minigärten und Fitnessgeräte, Bücherdepots und Cafes...
Ich sah Leute, die lachten. Woher kannten die sich alle? Hörte Musik, sah einige tanzen. Roch den Grillduft. Meine Wohnung hatte keinen Balkon, ich hatte schon ewig nicht mehr gegrillt. Schnappte mir eine Flasche Rotwein und ging runter.

Ich habe noch nie so eine Gemeinschaft erlebt. Als ob die Leute auf mich gewartet hätten. Die Straße als Wohnzimmer oder als Garten für alle. Seitdem kenne ich hunderte von Leuten. Habe eine Menge Freunde gewonnen. Echte Freunde, mit denen ich lachen kann, wenn mir danach ist. Die mich in den Arm nehmen, wenn etwas schief gegangen ist. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, fragt fast immer jemand, ob ich mitessen will.
Von allen, die ich kenne, hat jetzt nur noch Günter ein Auto. Er ist zum TAK verpflichtet und darf in den Städten nicht fahren. Günter gibt das Ziel ein, seine Tempo-Abstands-Kontrolle übernimmt den Rest. Seit es kaum noch Individualverkehr gibt, ist das Radfahren sicher geworden. Fast jeder fährt Fahrrad, mehr Leute sogar, als in Amsterdam. Das hat das Gesundheitssystem entlastet und zu einer Umschichtung der Sozialsysteme geführt. Die Kranken-, Pflege und Arbeitslosenversicherung sind durch eine Betreuungs- und Jobgarantieversicherung ersetzt. Wir zahlen wie gewohnt ein und erhalten bei Verlust unseres Arbeitsplatzes einen neuen Job mit gleicher Bezahlung. Noch wichtiger aber ist, dass alle, die die Schule mit mindestens der Note drei abschließen, das Recht auf einen Ausbildungsplatz haben.

Was meinen Sie, was mein Flüchtlingspatenkind deutsch gepaukt hat, damit es das schafft. Eine glatte zwei ist dabei herausgekommen, jetzt lernt er Verkehrskoordinator. Alle Menschen, die gerade nicht im gewünschten Beruf arbeiten können, werden von der Versicherung als Verstärker bezahlt. Um Pflegebedürftige auch menschlich zu betreuen, Menschen auf der Straße zusammen zu führen, Kindergartenkindern vorzulesen oder Flüchtlingen deutsch beizubringen. Seit diese Jobs menschenwürdig bezahlt werden, herrscht kein Mangel an Bewerbern.
Meine Oma saß früher einsam in ihrer Wohnung. Jetzt hat sie sich ein Tablet gekauft und setzt sich einfach irgendwo dazu. Wenn sie etwas wissen will, fragt sie. Es findet sich immer jemand, der ihr die Fotos ihrer Enkel heraussucht. Genau so, wie sich immer jemand findet, auf das Baby im Nachbarhaus aufzupassen, wenn die Mutter kurz einkaufen geht.
Jedes Wochenende wird gefeiert. Rolliparty an der Ecke Tulpenweg, Flohmarkt neben der Kirche, Grillparty der Skater…

Wenn mir jemand vor zehn Jahren vorausgesagt hätte, dass in Deutschland so viel Beziehung und Kontakt entstehen würde, hätte ich ihn für verrückt gehalten. Jetzt genieße ich das ungemein. Ich lebe alleine in meiner Wohnung, aber ich bin nie einsam. Und mit der Mobicard fing alles an!

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