Safety Area Gmünd I

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Carmen Derst, 18 Jahre

Aus der Eingangstür eines Bürogebäudes tritt eine Frau auf die kleine Straße, die einen kleinen Spalt in die Wolkenkratzerlandschaft reißt. Verspiegelte Fassaden an den Häuserriesen werfen sich das gleiche trostlose Bild zu, das auch vor den Augen der Frau liegt. Graue Straße, abgeschaltete Ampel und ein einsames Auto, das an ihr vorbeirast. Für kurze Zeit übertönt es die Umgebungsgeräusche der Stadt mit seinem Knattern und fügt noch etwas mehr Feinstaub hinzu zu dem Dunst, der schon zwischen den Wolkenkratzern wabert.
Die Frau zieht sich nochmal den Mundschutz zurecht, den sie schon im Gebäude aufgesetzt hatte, und hastet dann in die Richtung, in der das Auto verschwunden ist, davon. Immer wieder blickt sie sich hektisch über die Schulter, ihre Aktentasche hält sie mit den Händen an ihren Körper gepresst. Auch wenn sie mit den hochhackigen Schuhen über den Rissen im Asphalt des schmalen Gehwegs wackelt, verringert sie ihr Tempo nicht.
So eilt sie durch die menschenleere Stadt und scheint nicht zu bemerken, dass sich die grauen Bürogebäude langsam auseinanderziehen, zwischen ihnen jetzt kleine alte Häuser kauern und hin und wieder ein Baum seine Blätter über der Straße abwirft. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, hetzt sie an einem kleinen Kiosk vorbei, dessen Mülleimer überquillt von alten Zeitschriften, leeren Pommesschachteln und zerquetschten Bierdosen. Auch einem Stand am Straßenrand, an dem ein dreckiger Junge HotDogs verkauft, gönnt sie keinen Blick. Ihre Absätze klackern weiter über den Flickenteppich aus Asphalt, aus dem der Fußweg neben der jetzt stärker befahrenen Straße besteht. Mit ihren hochgezogenen Schultern und dem weiterhin stur nach unten gerichteten Blick scheint sie sich fast auf diesem aufzulösen.
Dennoch erregt sie Aufmerksamkeit bei anderen Passanten und auch bei Autofahrern. Mit dem Mundschutz, der großen Sonnenbrille und ihrer Aktentasche passt sie nicht in diese Gegend, in der sich die verglasten Bürogebäude von vorhin zu grauen Blöcken verwandelt haben, bei denen selbst die Fensterscheiben so vor Schutz strotzen, dass sich nichts in ihnen spiegelt. In ihren Eingängen lungern rauchende Männer herum, die der Frau lüstern hinterher starren, in den kleinen verdreckten Gassen zwischen den Häuserblöcken unterbrechen kleine Kinder ihre Rauferei, um sich gegenseitig auf den Mundschutz der Frau hinzuweisen und ein paar halbstarke Jugendliche pfeifen ihr aus einem Auto hinterher. Und auch wenn die Frau nicht aufschaut, sie bemerkt die feindselige Stimmung ihr gegenüber sehr wohl. Sie umklammert ihre Aktentasche fester und beschleunigt noch einmal ihre Schritte.
So hetzt die Frau durch die Straße, wie getrieben von den Augen der Bewohner, die sie scheinbar von jeder Ecke verfolgen. Sie kommt vorbei an Kinderspielplätzen, von deren Rutschen die Farbe schon längst abgebröckelt ist und auf deren Schaukeln rauchende Jugendliche sitzen, genau wie auf den mit Graffiti verschmierten Parkbänken neben einem kleinen Grünbereich mit verdorrten Büschen und ruppigem Gras.
Auf dem Schulhof einer Grundschule spielen Kinder Fußball mit einem zerfledderten Ball der WM 2018 und einige Mädchen stehen tuschelnd in einer Ecke. Direkt daneben sind die Schaufenster eines Supermarktes mit Holzbrettern verriegelt, von denen ein Nagel heraussteht, an dessen Ende die Frau fast hängenbleibt.
Einem anderen Menschen, der wie sie mit einem Ziel durch die Straßen läuft, begegnet sie nicht. Die anderen Menschen stehen nur in Gruppen in den Hauseingängen der Blockbauten, rauchen, trinken und gaffen. Ihre Frauen sitzen in den Wohnungen und sehen gelegentlich hinter den Vorhängen hervor, um zu schauen, was Männer und Kinder so treiben, und die Kinder kommen von der Schule zurück und streifen in kleinen Gangs durch die Gassen, nach Herkunft und Religion getrennt. Sie unterhalten sich in den Sprachen ihrer Eltern und Großeltern, welche vor vielen Jahren nach Europa kamen und deren Integration aufgrund der Masse an Immigranten total schieflief.
Und wo sich vorherige Generationen in Europa noch ein besseres Leben erhofft hatten, haben ihre Kinder und Enkel schon lange erkannt, dass sie ihre Probleme nur an einen anderen Ort mitgenommen haben. Und dort hat sich die Armut und Perspektivlosigkeit von Generation zu Generation vergrößert, statt sich abzubauen und die Kluft zwischen Arm und Reich, Migrant und Staatsbürger, wurde mit jedem neu einreisenden Flüchtling größer. Bis heute diese beiden Bevölkerungsschichten in scheinbar komplett getrennten Welten leben.
Die einen in großen grauen Fertigbauten, alten Schulen oder Kasernen, oft auch nach Jahren noch nur notdürftig eingerichtet und mit großen Familien auf engstem Raum.
Die anderen in geräumigen Lofts über den Bürogebäuden oder in ihren eigenen Häusern in einem mit Zaun und Wachmann gesicherten Bereich. Ein solcher Bereich taucht jetzt auch am Ende der Straße auf, die die Frau entlang geht. Über den zwei eisernen Flügeltoren, die den Einlass zu diesem Areal bilden, hebt sich der Schriftzug „Safety Area Gmünd I“ in glänzendem Gold gegen das Grau des Himmels ab und die Tore öffnen sich automatisch, als die Frau ihren Bewohnerausweis vor den Einlassautomat hält. Erst als sich die Tore wieder hinter ihr schließen, atmet die Frau die ganze Anspannung ab, die sich in ihrem kurzen Gang durch die Stadt angesammelt hat. Dann nimmt sie ihren Mundschutz ab und hängt sich die Aktentasche locker über einen Arm. Hier, in ihrem geschützten Bereich, fühlt sie sich endlich wieder sicher, auch wenn es nie eine akute Bedrohung gab in den paar Straßen, die ihr Büro nur entfernt liegt. Ihr kamen sie aber wie eine Weltreise vor, denn eigentlich geht sie nie zu Fuß durch die Stadt.
Das sei viel zu gefährlich für eine Frau aus ihrer Schicht, sagen alle immer und warnen sie davor, auch nur zum Supermarkt gegenüber der Safety Area zu gehen. Und sie schließt sich diesen Meinungen an, ohne je wirklich außerhalb des schützenden Zauns oder des Bürogebäudes gewesen zu sein; ohne je mit einem der Bewohner der Blockbauten gesprochen zu haben und ohne je deren Kindern beim Spielen zugeschaut zu haben.
Manchmal habe ich Angst, zu dieser Frau zu werden.

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Autorin / Autor: Carmen, 18 Jahre