Das Vermächtnis der Erbauerin

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Sharon Nisawa, 36 Jahre

Als ich ein Kind war, hörte ich oft, die Umsetzung meiner Ideen sei utopisch. Doch je älter ich wurde, umso mehr begriff ich, dass alles möglich ist, solange wir nicht aufgeben und an unsere Ideale glauben. Denn kleine, wie große Taten, beginnen immer mit einem ersten Schritt.

aus den Annalen der Erbauerin

Sommer 2050
Die Sonne glänzte hell am Firmament und warmer Wind fuhr durch die Laubbäume am Straßenrand. Im Schatten der Baumstämme spielten Kinder ein Würfelspiel. Sie blickten auf als die alte Frau auf der anderen Seite stehen blieb und zu ihnen hinüber sah.
Ihr Gesicht war vom Wetter gegerbt und ihre Haut zeugte von einem langem, ereignisreichen, aber auch harten Leben. Leid war ihr begegnet, hervorgerufen durch gedankenloses und rücksichtsloses Verhalten ihrer Mitmenschen, die aus Raffgier über den Rücken Anderer zu Erfolg gelangt waren und ihre Umwelt knechteten. Es hatte sie traurig gemacht, ihr aber nie den Mut genommen weiter zu kämpfen, für eine Welt in der Menschen in Frieden lebten.
„Seht mal, die Erbauerin“, flüsterten die Kinder und begannen wild mit ihren Händen zu winken. Ein sanftes Lächeln huschte daraufhin über das Gesicht der alten Frau. Früher einmal wäre es undenkbar gewesen für namhafte Persönlichkeiten ohne Personenschutz durch die Straßen zu flanieren. Heute lebten die Menschen unbeschwert, ohne Furcht vor ihrem Nächsten. Selbst Politiker und Filmstars war es möglich sich unters Volk zu mischen, ohne von  wütenden Demonstranten oder kreischenden Fans verfolgt zu werden. Mehr als dies erfreute die Erbauerin jedoch zu sehen, dass Kinder unterschiedlicher Herkunft und gesundheitlicher Verfassung miteinander spielten. Ein kleiner Junge aus der Gruppe hatte das Down Syndrom, wurde von seinen Kameraden aber behandelt wie ihres Gleichen. Allein dies zu sehen, berührte sie zu tiefst.
Ihr habt gute Arbeit geleistet, Lehrer der Neuzeit. Wir haben begonnen im Andersartigen nichts Bedrohliches mehr zu sehen, sondern eine Chance für Entwicklung. Im Namen von Religionen wird nicht mehr gemordet, stattdessen anerkannt, dass ein jeder Mensch seinen eigenen Glauben leben darf, dachte sie während sie ebenfalls eine Hand zum Gruße hob. Die Andere hielt einen Stock auf dem sie sich stützte. Es mochte altmodisch sein, in einer Stadt, deren medizinische  Versorgung ihr ein Gehen ohne dieses Hilfsmittel bescheren könnte. Aber sie wollte es so. Menschen sollten der Vergangenheit gedenken, sonst wurden sie all zu schnell übermütig. Daher suchte sie die Orte auf, wo die Kinder spielten und sich ihres sorgenfreien Lebens erfreuten.
„Wie war es damals?“, wurde sie oft gefragt.
„Damals lebten Menschen in Angst vor dem Morgen und ihren Mitmenschen. Ihre Raffgier, ihr Geiz und ihr Misstrauen hatte ihre Herzen krank gemacht. Die gesamte Gesellschaft litt daran, doch merkten sie es nicht,“ antwortete sie ihnen.
„Aber du hast dich gegen den Sturm gestellt und eine neue Welt gebaut?“ Die Augen der Kinder glänzten stets voller Freude in jenen Momenten und die Erbauerin ergriff Wehmut im Angesicht ihrer Erinnerungen.
„Ich hatte einen Traum, von einer Stadt, die nicht voller Abgase ist, einer Stadt in der Mensch und Natur im Einklang leben, deren Puls selbst die Vielfalt menschlicher Existenz verkörpert.“ Tatsächlich war das Stadtbild geprägt von Grünanlagen und prächtigen Gebäuden, in hellen Farbtönen, deren Baustile auf die Inspiration unterschiedlicher Kulturen hinwiesen. So waren moderne Glaspaläste neben fernöstlichen Pagoden und Häusern mit orientalischen Kuppeldächern errichtet worden. Alle Bauwerke waren in gutem Erhaltungszustand, innen wie außen und verliehen der Stadt eine exotische Atmosphäre. Die Infrastruktur war gut ausgebaut und zentrierte sich auf Magnetschwebebahnen, welche die Bewohner von A nach B brachten. Autos verkehrten nur in den Randbezirken der Stadt und wurden mit Strom betrieben, der aus Wasserkraft, Windkraft und Solarzellen gewonnen wurde.
„Mein Herz wusste, dass es möglich ist, einen Ort zu erschaffen, wo alle Menschen in Wohlstand leben, niemand wegen seines Alters, seiner Herkunft, seines Geschlechts oder Lebensstils ausgegrenzt wird. Dazu musste ein Umdenken in den Köpfen der Menschen stattfinden, die Erkenntnis Einzug finden, dass Zusammenhalt der Schlüssel zum Frieden ist.“ Einer ihrer ersten Schritte war daher ein Schulprojekt gewesen, das nicht auf Konkurrenz baute, sondern Teamwork. Sie hatte gewagt, was viele Pädagogen ihrer Zeit als undurchführbar bezeichneten. Natürlich hatte es Startschwierigkeiten gegeben. Zu Beginn waren viele Schüler versucht gewesen sich auf den Lorbeeren einiger Weniger auszuruhen, bis sie begriffen, dass sie zusammen noch bessere Leistungen erbringen konnten. Langsam und schleichend war die Einsicht gekommen, was als Gruppe zu erreichen war, wenn ein jeder seine Talente und Stärken der Gemeinschaft zur Verfügung stellte.
„Ihr Kinder der Zukunft seid die Hüter dieser Stadt, in der Menschen einander mit Achtung und Respekt begegnen, Ausbeutung, Gewalt und Kriminalität der Vergangenheit angehören.“ Stattdessen frönten sich die Menschen der Neuzeit einer leistungsgerechten Bezahlung, die ein gesteigertes Konsumverhalten zur Folge hatte und mussten nicht länger um ihr Naturrecht auf Arbeit, die ihnen auch Erfüllung brachte, kämpfen. Nicht zuletzt wurde dies durch modernste technologische Errungenschaften bewerkstelligt, die zur Sauberkeit des Stadtbildes beitrugen und Menschen körperlich entlasteten.
„In euch liegt der Keim zu erhalten, was wir euch geschenkt haben, eine Welt in der ihr euch eurem Wesen entsprechend entfalten dürft und das Recht am gesellschaftlichen Leben Teil zu haben, niemandem mehr aberkannt wird.“ Damit endete sie ihren Monolog und verabschiedete sich mit einem Händedruck von jedem Einzelnen.
Im Alter verbarg sich die Erinnerung an die Vergangenheit, aus der Jugend entsprang die Vision der Zukunft.

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Autorin / Autor: von Sharon Nisawa, 36 Jahre