Botschaft einer Baumfrau

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Eva Reidemeister, 28 Jahre

Die Sonne wärmt die bloße Haut, die man ihr bereitwillig zeigt, jedoch ohne, dass es brennt. Es ist gerade Frühling geworden. Eine leichte Brise wiegt die Grashalme wie zu einer stillen Melodie, die irgendjemand oder -etwas summt. Davon einmal abgesehen, scheint mir die Szene völlig leblos.
Radfahren verboten. Skateboardfahren verboten. Ballspielen verboten. Hunde sind stets an der Leine zu führen, ausgenommen Blindenführhunde. Das Betreten der Grünflächen ist untersagt. Kein offenes Feuer. Bitte nehmen Sie Ihren Müll mit. Bitte Wiesen und Wege nicht als Hundeklo benutzen. Ihr Bürgermeister – steht auf einem Schild.
Doch hinter meiner Stirn ist eine Leinwand gespannt. Das ist mein Kino. Ich mach' die Augen zu und die Saaltür öffnet sich. Kopfkino. Ein Fenster geht auf, bald eine Tür, durch die ich auf eine Wiese trete. Am Rande dieser Wiese windet sich stumm der Stamm eines Baumes in die Höhe, doch ich kann seine Gedanken hören. Überhaupt ist es so, als sei der Baum ausschließlich von Gedanken durchflossen. Kahle Äste und leere Zweige, aber voller Gedanken, Leitungsbahnen von Ideen.
Vielleicht irre ich mich – ist der Sinn getrübt, denn eine gewisse Faszination hält mich als hielt ich inne. Was wird geschehen? Da beginnt der Baum zu stöhnen. Nicht hörbar, aber er stöhnt auf. So wie Wind heult und es doch nicht tut.
Die Szene ist aus ihrem stillen Schlaf erwacht. Der Baum gähnt, er reckt und er streckt sich von den Wurzeln bis in die Zweigspitzen. So fühlt es sich an. Und dann zeigt sich das Schauspiel.
Kleine weiße Knospen, die mir bisher gar nicht aufgefallen sind oder vorher nicht da gewesen sind, entfalten sich eine um die andere Windung. Als habe man jemandem am Bauch und deshalb auch am Rücken bandagiert und löst nun sachte den Verband. Befreiend drehen und schrauben sie sich auf und hinauf in den azurblauen Himmel. Weiße Blätter, nun schon so groß wie meine Handflächen, hängen an den Zweigen. Unwirklich. Wie Schneebälle in der Frühlingssonne. Und dann höre ich hinter mir Schritte, erst ein paar, dann immer mehr. Massen von Fußpaaren nähern sich. Sie passieren mich oder gehen durch mich hindurch. Ich bin mir nicht sicher. In kürzester Zeit ist der schneeweiß behaupte Baum umzingelt von Menschen. Und auch sie recken und sie strecken sich. Sie greifen einer nach der anderen nach Blättern. Vollkommen mühelos nimmt sich jeder ein Blatt, als griffen sie in einen prall gefüllten Kühlschrank. Dann lassen sie sich in die Wiese fallen. Betten sich, aber mit offenen Augen. Ich traue mich endlich einige Schritte auf das Geschehen zu. Jeder hat ein Blatt in der Hand und hält es ans Herz gedrückt. Damit es nicht ausläuft? Eine Kompresse? Erst jetzt kann ich es erkennen: jedes Blatt ist beschrieben; manche mit mehr Buchstaben, manche mit weniger. Die Leute lesen? Manche Gedichte, manche Briefe, wieder andere Romane.
Ich fasse mir auch ein Herz. Greif' in den Baum hinauf und nehme mir ein Blatt. Es ist vergleichsweise kleiner als die anderen. Ich drehe und ich wende es in meinen Händen, kann aber beim besten Willen keinen Roman ausmachen, auch keinen Brief, nicht einmal ein Gedicht, eine Nachricht oder nur einen ganz kurzen Spruch. Als ich es schon seufzend in die Wiese werfen will, entdecke ich die kleine Unregelmäßigkeit in der linken unteren Ecke. Da steht doch was. Nur ein Wort.
Ich kneif' die Augen angestrengt zusammen und entziffere (gewissermaßen) das Wort. Noch nie bin ich einem so schwer zu lesenden Schriftstück begegnet. Jeder einzelne Buchstabe erweist sich als harte Arbeit. Meine Schläfen schmerzen. Schließlich aber habe ich es: S-A-A-T-GU- T. Saatgut. Sonst nichts. Ich stehe noch eine Weile so da, unsicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein soll.
Aber dann sag' ich mir: Schreib' alles auf; teure Gedanken überwinden Trostlosigkeit. Saatgut. Streu' es aus. Jeder Buchstabe ein Gedanke, ein Traum und eine gute Idee. An Bäumen sollen sie wachsen und aus der Erde sprießen. Leg' Dir Deinen Text aufs Herz und lern' neu lesen. Wirklich, man liest nur mit dem Herzen gut. Streu Assoziationen auf trostlosen Grund und trau Dich: träume. Saatgut. Ich mach' die Augen auf und nehme Papier aus meiner Tasche.
Spielen erlaubt. Tanzen erlaubt. Träumen strengstens empfohlen. Fantasie ist nicht an der Leine zu führen. Schon gar nicht an der kurzen. Bitte legen Sie ihren Ideen keinen Maulkorb an. Kein geschlossenes Weltbild. Das Leben besteht nicht nur aus Pflichten und Verboten. Achten Sie auf Ihre Mitmenschen. Hier gibt etwas zu entdecken. Willkommen auf dem Abenteuerspielplatz der Stadt meiner Träume. Grüßen Sie die Bäume. Botschaft einer Baumfrau – schreibe ich drauf.
Ich steige über die Wegbegrenzung und hänge meinen Zettel in den Baum und pflanze einen neuen Traum.

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Autorin / Autor: Eva Reidemeister, 28 Jahre