Viel zu kostbar

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Alicia-Veronique, 15 Jahre

29. Januar 2072 Tief in meine Gedanken versunken schaute ich hinaus. Flocken tanzten wild im aufrauenden Wind und priesen ihre Freiheit. Ich beobachtete sie und wünschte mir, mit ihnen kommen zu können; ungehalten in den weiten Wolken herumzuwirbeln. Was war nur aus meinem Leben geworden? Die Zeit des Winters machte mich seit jeher nachdenklich, doch dieses Jahr stimmte mich diese einst friedvolle Zeit schlichtweg traurig. Ich dachte nicht mehr daran, dass sich die Zeit verlangsamte unter den kristallenen Schichten von Schnee, die majestätisch glitzerten wie endlose Decken aus Brillanten. Ich machte keine großen Pläne mehr für die Zeit, wenn die Kälte gehen und die Welt wieder erwachen würde. Nein, ich dachte an Menschen, die erfroren, an leere, verkommende Straßen im Sommer und an die frostigen Herzen der Leute. Denn ich konnte keine Pläne mehr machen. Ich war alt. Ich war allein. Es war einsam.

Sehnsuchtsvoll fragte ich mich, wie ich meine Jahre so leichtfertig einem anonymisierenden System hatte schenken können. War ich damals so blind gewesen? Dieser Welt ging so viel verloren, ohne dass sie es auch nur beachtete. So viel Wissen, so viel Liebe, so viel Nähe und Güte. Manchmal war ich überzeugt, dass sich wirklich ein ausgeklügeltes Regime dahinter verbarg. Früher gab es einmal eine Fernsehserie. Der gesamte Globus wurde überwacht. Jeder einzelne Mensch, angeblich zum Schutz. Das war eine Idee, eine Vision. Oder zumindest wurde es so dargestellt. Doch ich war mir sicher: Es war längst daran gewesen, Wirklichkeit zu werden. Nichts blieb mehr persönlich. Alles war so offenkundig, und wenn man meinen sollte, so kämen sich Menschen näher und Leid würde gemildert, so wird man übel enttäuscht. Ich musste beobachten, wie Leute nicht zusammen-, sondern auseinanderrückten. Verschreckt von der Offensichtlichkeit des Lebens neben einem. Man könnte so viel Gutes mit diesem System machen, doch es entwickelte sich viel mehr zu einem äußerst gefährlichen Spielzeug. Es war süchtigmachend. Ärgerlich erinnerte ich mich an meine eigene Infizierung. Ich musste alles der Öffentlichkeit preisgeben, gierte nach Likes, Kommentaren und Followern. Keine Stunde hielt ich ohne Facebook, Twitter, whatsapp aus.

Doch warum sollte man noch direkt auf andere zugehen, wenn es nichts mehr zu entdecken gab? Keine Geheimnisse, Erfahrungen oder Erlebnisse, die man teilen konnte. Umarmungen, Küsse, Boxhiebe – wurden über das Internet verteilt. Trost und Verständnis spendete man digital. Wie viel Zeit hatte ich vergeudet, nur um vor meinem verdammten Bildschirm zu hocken und mich mit dieser Welt zu beschäftigen, die ich nicht einmal anfassen konnte? Ich vermisste richtige Hingabe, eine warme Stimme oder eine liebevolle Umarmung, die mir nur ein Wesen geben konnte. Mir fehlte Streit mit verletzenden Blicken und mir fehlten Diskussionen mit eindeutigen Gesten. Bücher, deren Seiten man umschlagen und deren süßlichen Duft nach Wissen und Zuflucht man inhalieren konnte, deren Seiten man mit einem Lesezeichen trennen konnte. Mir fehlten Geldscheine, deren eigenes kleines Imperium von Bakterien und Viren man sich vorstellen und fürchten konnte. Mir fehlten überfüllte Kaufhäuser, der stechende Duft frischer Tinte, Rechtschreibung und Grammatik, vergilbende Ecken alter Fotos. Und mir fehlten Menschen. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass die Zeit mir so davonlaufen könnte und sich dieses Bedürfnis, diese Sucht nach Transparenz, sich so rasend verbreiten würde.

Heutzutage brauchte man weder Familie noch Freunde. Dass die menschliche Gattung überhaupt noch existierte, war zahllosen Datingportalen zu verdanken. Doch wahre Liebe konnte sich in dieser Zeit nicht mehr entwickeln. Man brauchte nicht mehr als einen gemütlichen Sessel und einen Internetzugang. War ich denn wirklich die Einzige, die diesem Mist nicht erlegen war? Es gab doch so viel Schlimmes in unserer Welt. Und obwohl wir jederzeit genau wussten, was auf der anderen Seite der Erdkugel geschieht, berührte es niemanden mehr? Ich war mir sicher, dass das Internet und die daraus resultierende Digitalisierung einmal eine gut gemeinte Idee gewesen war, doch niemand hatte dabei die sich viel zu schnell verbreitende Dummheit bedacht. Man konnte die geschaffenen Möglichkeiten so leicht missbrauchen. Damals war es noch in einem akzeptablen Rahmen gewesen, doch die Zügel wurden uns aus der Hand gerissen und in eine andere Richtung geschwenkt. Dies war kein Geschenk mehr. Ich fürchtete mich davor, was in zehn Jahren noch von uns geblieben sein würde und betete, es nicht mehr miterleben zu müssen. Wahrscheinlich wäre es viel besser gewesen, die Fähigkeiten des Internets nie entdeckt zu haben. Denn Menschen sind unberechenbar. Und die meisten noch viel mehr als das; die meisten waren einfach viel zu formbar. Und so gibt es die Wenigen, die tun, was sie wollen und die anderen, die diesen folgen. Ich hatte mich schon immer gefragt, wie diese Menschen das machten. Immer mehr wurde mir bewusst, dass genau diese Gefahr unseren Untergang einleiten würde. Wie oft hatten wir uns schon leichtgläubig von einigen wenigen beeinflussen und einlullen lassen und waren in Katastrophen gestrandet oder an ihnen vorbeigeschrappt.

Doch es gab noch diese andere kleine Gruppe. Nämlich die, die verzweifelt zusahen. Die, die es nicht schafften, den Rest wachzurütteln und voll Trauer zusahen, wie ihre eigentlich intelligenten Zeitgenossen ihr Können und ihre Chancen bereitwillig wegwarfen. Diese wenigen waren nicht stark genug. Oder sie erkannten zu spät, so wie ich. Wo ein Wille ist, dort ist auch ein Weg. Doch ich war alt. Die Stunden glitten mir aus der Hand wie damals die Kontrolle über meine Denkfähigkeit. Und mein Antrieb erlosch immer mehr. Früher war ich so voller Energie gewesen. Nun glomm nur noch eine trostlose Flamme in mir und wartete darauf, erlöst zu werden. Nichts hielt mich mehr hier. Meine Hoffnungen waren niedergetrampelt worden wie Asche eines längst erloschenen Feuers. Tränen liefen mir über die Wangen und überzogen mein Gesicht wie ein dichtes Spinnennetz. Kurze Zeit sollte sich die Welt vor mir verschleiern und die Fäden des Netzes meine Gedanken verfangen.

Wenn keiner anfing, gegen den Strom zu schwimmen, würden die Menschen in den Fluten der Gleichgültigkeit untergehen. Ich war ein kleiner Kieselstein am Grund dieses Gewässers. Ich bewegte nichts mehr, doch ich war auch zu fest eingegraben, um selbst mitgerissen zu werden. Vielleicht würden sich einige Kiesel eines Tages zu einem Fels verbünden und sich den Wassermassen entgegenstellen. Denn war das Leben, diese kurze Zeit, nicht viel zu kostbar, um sie einer Tastatur und einem Bildschirm zu widmen? Gefühle und Gedankengut sind unbezahlbar. Es wäre eine Schande, sie einfach zu vergessen.