Tattoos - Die Geschichte des Tätowierens
Autor: Matt Lodder
Wie hat sich die ungeheure Beliebtheit von Tattoos in unserem Kulturraum entwickelt, wer waren die Vorreiter der Branche, wer hat traditionelle und bis heute populäre Motive und Stilrichtungen entwickelt? Auf diese Fragen möchte Matt Lodder antworten, doch eines sei gleich vorangestellt: Er beschäftigt sich mit der Geschichte des Tätowierens im Westen, wie zwar nicht im Titel, aber gleich im einleitenden Kapitels klar gemacht wird. „Im Westen“ heißt hier offenbar primär: in Großbritannien und den USA. Ist das Lodders Arbeitsort (England) und Fachbereich (Amerikastudien) geschuldet? Oder war die Entwicklung der Tätowier-Branche wirklich hauptsächlich dort verortet? Dem Text ist das nicht genau zu entnehmen. Deutschland und einige wenige andere europäische Länder kommen jedenfalls nur am Rande vor.
Matt Lodder ist promovierter Kunsthistoriker, dessen Schwerpunkt die Beschäftigung mit Tätowierungen und generell „Body Art“ ist. Für das Buch – im Original auf Englisch 2024 erschienen – hat er in diversen Archiven und Sammlungen recherchiert. Der Anspruch ist also ein wissenschaftlicher. Dementsprechend gehoben ist der Schreibstil. Das kann anstrengend sein, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Allerdings lockern interessante, stets zum Kapitel passende Abbildungen auf jeder Doppelseite die Abhandlungen auf. Oft sind es Reproduktionen historischer Tattooentwürfe und -vorlagen und Fotos tätowierter Menschen. Eine mehrseitige Bibliografie gibt Anregungen zum vertiefenden Weiterlesen.
Die Kapitel sind chronologisch geordnet. Der Beginn liegt im 18. Jahrhundert. Wir kommen jedoch schnell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann schnell im 20. an, wo der entschiedene Schwerpunkt liegt. Das Kapitel über die 1990er Jahre bildet schon den Ausklang. In dieser Zeit ist die Branche so rasant gewachsen, dass der Autor die Entwicklungen für zu umfangreich und weitgefächert befunden hat, um ihnen im begrenzten Umfang des Sachbuchs noch gerecht werden zu können.
Wir lesen vorrangig eine Geschichte der Menschen und ihrer Netzwerke in der Szene. Nach und nach wird erzählt, wer wo gearbeitet, welche Stile entwickelt, welchen beruflichen Austausch gepflegt, welche Vereine gegründet hat. Bald schwirren die vielen Namen im Kopf herum: Wer war noch mal Ed Hardy, wer Rudi Inhelder, wer Lyle Tuttle usw.? Zwar gibt es am Ende des Buches ein Register mit Stichworten/Namen und Seitenangaben, mehr geholfen hätte der Lektüre allerdings eine kurze Übersicht der Personen mit den wichtigsten Fakten.
Es ist, wie so oft, eine Geschichte der Männer. Über Tätowierkünstlerinnen ist viel weniger überliefert. Sie hatten es schwer, in der Branche sichtbar zu werden. Lodder bemüht sich, ihnen gerecht zu werden wo möglich. Namen wie Millie Hull oder Joyce Derrick bleiben aber Ausnahmen.
Über technische Entwicklungen der Gerätschaften, über chemische Aspekte (Farben und Tinten) wird fast gar nicht gesprochen. Eine detaillierte stilgeschichtliche Analyse der Motive fehlt, obwohl man es beim kunsthistorischen Hintergrund des Autors erwartet.
Besonders spannend fand ich den starken Einfluss japanischer Tätowierpraktiken auf die westliche Szene, der sich über Jahrzehnte in einschlägigen Motiven (z.B. Drachen und Tiger) gehalten hat. Auch die Anpassung japanischer Tätowierer an den Geschmack ihrer westlichen Kundschaft zeugt von einem wechselseitigen Kulturaustausch, über den ich gerne noch mehr erfahren hätte. Eine Reflexion über koloniale Praktiken und die Aneignung indigener Bildsprachen durch Westeuropäer und Amerikaner – auch in Hinsicht auf den Tribal-Trend – überlässt das Buch uns leider ganz allein.
Ich finde den Fokus auf Personen und Netzwerke für eine „Geschichte des Tätowierens“ zu einseitig. Dennoch hat mir das Buch wegen der vielen Abbildungen und ästhetischen Aspekte des Themas gut gefallen. Es ist super für Tattoo-Fans, wird aber auch Kulturanthropologen und Freunde historischer Fotografien erfreuen. Dank der wissenschaftlichen Recherchearbeit des Autors präsentiert es selten gesehene Dokumente, gibt einen intimen Einblick in die Anfänge der westlichen Tätowierkunst und hebt sich dadurch von anderen Publikationen ab.
Erschienen bei Haupt Verlag
Autorin / Autor: Christina Weigel - Stand: 14. Oktober 2025