Zukunftspfade - In welche Richtung wir nicht gehen sollten

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Sina Acksen, 20 Jahre

Es klingelt. Es steht jemand an der Tür. Ich stöhne, weil es so früh ist und weil ich eigentlich noch gar keine Lust auf Kontakt mit Menschen habe. Aber es ist eh nur der Frühstücksbote. Ich gehe zur Tür. Setze die Atemschutzmaske auf, die man heutzutage immer tragen muss, sobald man das Haus verlässt. Vor der Tür im geisterhaften Nebel steht ein Mann mit dunkler Hautfarbe. Auch er trägt eine Atemschutzmaske. Wortlos hält er mir das Frühstück hin, das ich vor einigen Minuten über das Handy bestellt habe. Ich muss noch kurz den Daumen auf sein Handydisplay drücken, um zu bestätigen, dass ich es erhalten habe. Ohne ein Wort dreht er sich um und geht. Ich gehe nach drinnen und setze mich an den Küchentisch neben den Fernseher. Lustlos schaufle ich den Brei in mich hinein, der extra für mich angemischt wurde. Wann ist die Leichtigkeit im Leben vergangen?

Meine Smartwatch vibriert. "Ihre Gesundheit ist nicht auf dem höchsten Stand. Ihr Blutdruck und ihre Temperatur sind leicht erhöht. Ich empfehle Tabletten B1, dreimal täglich kurz vor dem Essen schlucken." Ich schlurfe zum Medizinschrank, der sich auf Befehl der Smartwatch öffnet. Ich nehme resigniert eine Tablette, in der Hoffnung, dass sich irgendwas ändert. Ehrlich gesagt kann ich nicht mal sagen, wie ich mich fühle. Ich habe das Gefühl für das Gefühl verloren. Außerdem kann ich mich auf meine Watch verlassen, mein zweites Gehirn. Obwohl diese eigentlich entlastend sein sollte, fühle ich mich in letzter Zeit mehr und mehr erschöpft. Ausgelaugt. Und ich weiß nicht warum. Wann haben wir aufgehört zu denken?

"Sturmwarnung! Bitte bleiben Sie heute alle in Ihren Häusern. Gehen Sie nicht raus. Bleiben Sie ruhig." Gestalten mit Atemschutzmasken und Megaphonen schwabern durch die Stadt. Es soll Sturm geben. Eine Umweltkatastrophe. Noch eine. Es gibt nichts, was wir nicht schon durchgemacht haben. Das Eis ist geschmolzen, Tausende sind ertrunken. Das nutzbare Land ist auf einige wenige Flecken geschrumpft. Menschen verhungern täglich. Andere leben in einem Luxus, der kaum vorstellbar ist. Einmal im Monat Sturm. Immer 100 Tote oder mehr. Kinder werden obdachlos. Ich hocke weiter in meinem Haus und bin stumm. Bleibe drinnen. Tue nichts. Warum tue ich nichts?

Ich sitze vor dem Fernseher. Einmal am Tag zwinge ich mich, die Nachrichten zu schauen. Auch wenn ich es danach meistens bereue. Das Leben da draußen ist dunkler als in meiner Blase. Rebellion auf Bananenplantage. 40 Sklaven sterben. Ökoterroristen gar nicht weit von hier, die sich an Bäume gekettet haben. Die Reichen und Mächtigen in diesem Land haben alles. Machen alles. Sie essen täglich Bananen. Sie roden alle Bäume, um noch mehr Kohle abzubauen. Damit ihre Häuser warm sind. Damit ihre teuren Autos fahren. Ich gehöre hier auch zu den Ärmeren. Die, die aber noch akzeptiert werden, weil sie weiß sind. Die hier leben dürfen und müssen, weil die Reichen auch hier Sklaven brauchen. Ändert sich die Welt jemals?

"Persönliche News: Ihre Mutter wurde heute in eine andere Anstalt verlegt. Die Ärzte wünschen keinen Kontakt von außerhalb." Ich lese diese Nachricht auf meinem Handy und spüre einen kleinen dumpfen Schmerz. Aber es ist nicht viel. Ich habe meine Mutter seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Als die Ärzte sie damals weggebracht haben, wurde mir gesagt, dass es besser so sei. Mir wurde gesagt, dass meine Mutter zu viele falsche Gedanken gehabt hat. Es hat wie eine Drohung geklungen. Pass dich an. Fall nicht auf. Tu nur das, was erwartet wird. Lebe nicht, existiere nur. Falls nicht, dann sorgen wir dafür, dass du es tust. Denn du bist und bleibst abhängig von uns. Wann haben wir unser Leben in ihre Hände gelegt?

Zeit für die Arbeit. Ich trete mit Atemschutzmaske aus meiner Tür und schaue mich um. Es dauert einen Moment, bis ich mich orientieren kann. Hier unten bei uns ist die Luft von Tag zu Tag schlechter. Ich gehe zu dem Auto, dass man mir zur Verfügung gestellt hat. Es ist eines dieser Autos, die früher nicht mehr gefahren wurden durften, weil sie zu viele Abgase ausstießen. Hier unten darf man sie fahren. Hier stört das keinen. Es ist eh alles zu spät. Mit Nebelscheinwerfer fahre ich los. Es ist Stau. Bei der Luft fahren alle Leute Auto. Es ist geisterhaft still. Die Luft dämmt alle Geräusche. Ich komme bei der Arbeit an und seufze. Überall wäre ich gerne nur hier nicht. Warum tun wir etwas, das uns nicht guttut?

Das Handy vibriert. "Sie haben ihr Monatsgehalt überwiesen bekommen. Ihr Kontostand beträgt jetzt 374." Ich bin enttäuscht. Es ist weniger als ich erhofft hatte. Die Nahrungsmittel sind wohl wieder teurer geworden. Aber eigentlich ist es genug. Dieses Geld gehört wirklich mir. Ich spüre ein freudiges Gefühl. Das neue Kleid wartet schon. Ich habe es neulich gesehen und es lässt mich nicht mehr los. Mir fällt zwar keine Gelegenheit ein, wo ich es tragen könnte, aber es wird auf jeden Fall meinen Kleiderschrank zieren und meine Laune in den nächsten Tagen oben halten. Ich spiele mit dem Gedanken, laut zu lachen oder zu lächeln, aber es wäre nicht ehrlich. Nichts ist ehrlich. Warum belügen wir uns selbst?

An einem Samstagabend sitze ich auf dem Sofa. Und starre an die Wand gegenüber. Träume von einer besseren Welt. So viele Wünsche und Hoffnungen, die ich in meinem Alltag untergrabe. Ich glaube, es ist zu schmerzhaft, sie zuzulassen. Denn jetzt ist es zu spät. Die meisten von uns sind verdammt in diesem Leben. In dieser Existenz. Ich spüre den Zorn, wie er in mir aufsteigt. Zorn auf die Leute, die nichts getan haben, als es entscheidend war. Alles hätte gut werden können. Und es hätte wenig Anstrengung gekostet. Aber es wurde nichts getan. Gar nichts. Alles haben nur an sich gedacht. Meine Smartwatch meldet sich: "Ihre psychische Gesundheit ist auf einem niedrigen Level. Ich empfehle die Tabletten A1." Ich stehe auf und gehe zu dem Schrank. Schütte die Tabletten in mich rein. Denn es ist besser, nicht zu denken. Es tut weniger weh.

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Autorin / Autor: Sina Acksen, 20 Jahre