Bergauf

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Melisande Wegener, 14 Jahre

„Wir verlassen jetzt die Naturschutzzone und betreten Zone 1“, sagte ihr Fahrer.
Sie seufzte müde, hob aber trotzdem den Kopf, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Zone 1 war nicht übel. Natürlich konnte sie nicht gerade mit der Naturschutzzone mithalten, aber es gab noch Bäume, Gräser und hin und wieder auch mal ein lebendes Tier. Zone 1 hatte sich wirklich gut regeneriert. Jetzt lebte hier die Mittelschicht. Es gab kleine Häuschen und ordentlich geteerte Straßen. Hier war noch alles in Ordnung. Für sie waren es natürlich eher ärmliche Verhältnisse, aber sie war auch in der Naturschutzzone aufgewachsen. Wohlbehütet inmitten von Wäldern, Wiesen und Parks. Ja, sie erinnerte sich sogar noch an eine Zeit, wo es Bienen gegeben hatte. Ihr Großvater hatte einen Bienenstock besessen. Als sie noch ein Kind war, hatte sie ihm oft dabei zugesehen, wie er sich um die kleinen Wesen gekümmert hatte. Sie waren irgendwann einfach nicht mehr nachhause gekommen. Großvater hatte ein oder zwei dann wieder gefunden. Sie waren tot. Es lag an der Industrie, hatte er gesagt. An den Großbauern, die zu viele Pestizide auf ihre Pflanzen sprühten. Das war kurz vor der Verlegung der ganzen Bauernhöfe in die erste Zone. Die erste Zone war fruchtbar genug gewesen, um dort Pflanzen anbauen zu können, aber nicht so fruchtbar, wie die Naturschutzzone.
„Frau Ministerin, ist alles in Ordnung?“, fragte ihr Fahrer.
„Natürlich“, antwortete sie.
„Wir betreten jetzt Zone 2, ich schlage vor, dass Sie die Sonnenblenden hochziehen.“

Schweigend drückte sie den entsprechenden Knopf. Jetzt erkannte sie nicht mehr allzu viel von ihrer Umwelt, aber vielleicht wollte sie das auch gar nicht. Die zweite Zone gehörte den Armen. Sie lebten in winzigen Hütten. Die Natur war komplett vernichtet. Die einzigen Tiere, die überlebt hatten, waren die Kakerlaken. Die heißen Sommer hatten die Erde ausgetrocknet, bis sie vollkommen unfruchtbar war. Daran war nur der Klimawandel Schuld. Die Hitze hatte das Landesinnere in Wüsten verwandelt. Die Küsten hatten Glück gehabt. Als der Meeresspiegel stieg und später wieder sank, wurde ein Großteil der Nährstoffe in der Erde konserviert. So entstanden die Naturschutzzonen. Aber die zweite Zone hatte es schlimm getroffen. Jahrzehnte lange Dürren, Hungersnöte, Durststrecken. Es gab Millionen von Toten. Was war Schuld? Eine gute Frage. Waren es die Menschen? Oder wäre es ohnehin passiert? Das ist schwer zu beantworten, es gab so viele Komponenten. Der zu hohe CO2 Ausstoß, die Abholzung der Wälder, die komplette Zerstörung der Natur. Am schlimmsten waren die Leugner. Die Menschen, die es nicht wahr haben wollten, bis es zu spät war. Es hatte zu viele von ihnen gegeben. Zu viele Menschen, die die Probleme verdrängt hatten, die trotzdem weiter ihre Autos fuhren und in Urlaub flogen, die Plastikprodukte kauften und wegwarfen, die die Massenproduktion und insbesondere die Massentierhaltung förderten, in dem sie sich weigerten, etwas Anderes zu kaufen. Die Menschen, die mit Scheuklappen durch das Leben gingen. Sie starben, wie sie gelebt hatten, sinnlos.

„Frau Ministerin, wenn ich fragen darf, was genau wollen Sie in Zero?“
Sie hob den Kopf. „Eine Konferenz“, erklärte sie, „Es geht um die Fortschritte des Landwirtschaftsprogramms.“
Er sah wieder auf die Fahrbahn. „Wir verlassen Zone 2 und betreten jetzt Zone 3. Ich schlage vor, dass Sie ihren Mundschutz aufsetzen.“
„Sicher“, sagte sie und zog einen Mundschutz hervor.

Zone 3. Sie war unbewohnbar. Die Wenigen, die trotzdem hier lebten, waren komplett verseucht. Sie waren nicht mehr zivilisiert. Der Boden war größtenteils atomar verstrahlt, aufgrund der Atomkraftwerke, die hier in die Luft geflogen waren. Obwohl es schon viele Jahrzehnte her war, gab der Boden noch immer Strahlung ab, nicht zu vergessen die vergiftete Luft. Niemand sollte sich hier länger aufhalten. Dennoch taten es Menschen. Irgendwie empfand sie Bewunderung für sie. Sie fand sich schon in Zone 1 unwohl, wenn sie nicht an jeder Ecke einen Baum sah. Das machte sie wahnsinnig. Sie war in Mitten von Bäumen aufgewachsen. Aber sie war auch sehr über-privilegiert gewesen. In ihrer Kindheit hatte sie jeden Tag Obst und Gemüse bekommen. Damals war das noch purer Luxus gewesen. Jetzt ging es langsam wieder aufwärts. Der Obst- und Gemüseanbau auf dem Mars hatte seinen Teil dazu beigetragen. Aber insgesamt schien die Katastrophe das Denken der Menschen verändert zu haben. Sie schienen wachgerüttelt worden zu sein.
„Frau Ministerin?“, kam es von vorne, „Es scheint Probleme zu geben.“
Sie rieb sich müde die Schläfen. „Was für Probleme?“
Er warf einen Blick auf den Bildschirm im Armaturenbrett des Wagens.
„Die Straße scheint brüchig zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob der Wagen das aushält. Sollen wir umdrehen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich meinen Vortrag nicht halte, können wir das Anbauprogramm nicht fortsetzen.“
Sie fuhren weiter. Als sie die Bruchstellen erreichten, hatte der Wagen ordentlich zu kämpfen. Für einen Moment bekam sie es mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn sie liegen blieben? Doch sie hatten Glück und der Wagen schaffte die Turbulenzen.
„Wir sind da, Frau Ministerin.“ Jemand öffnete ihr die Autotür. Sie schüttelte Hände und wurde in das Gebäude gebracht. Fest umklammerte sie die Papiere in ihrer Hand. Ihre Rede. Das Landwirtschaftsprogramm auf dem Mars. Es bedeutete Hoffnung. Es ging bergauf.

Mehr Infos zum Schreibwettbewerb