Gewebte Geschichten

Beitrag zum Lyrik-Wettbewerb Connected von Hannah K., 20 Jahre

Meine Kleidung reist weiter,
auch wenn ich stehenbleibe.

Sie trägt die Handschrift fremder Hände:
feine Stiche wie Herzschläge
am anderen Ende der Welt.

Genäht in Asien,
für ein Leben in Europa —
für einen flüchtigen Sommer,
ein paar Atemzüge im Schrank,
ein kurzes Aufflackern auf der Haut.

Dann wird sie stillgelegt,
zur Seite geworfen,
wie ein Blatt im Herbst,
das nie lernen durfte zu fallen.

Doch nichts vergeht wirklich.
Sie kehrt zurück
wie ein Echo im Wasser:

als Staub in den Lungen
derer, die Baumwolle pflücken;
als Fluss,
der die Farben meiner Trends trägt,
so grell, dass hinschauen weh tut;
als Gift in Flussbetten,

Kreislauf der Ausbeutung —
ein Rad, das sich dreht,
auch wenn ich die Augen schließe.

Und ich?
Ich stehe zwischen
Protestschildern und Paketsendungen,
zwischen lautem „Wir müssen!“
und leisem „Aber ich will…“.

Ich fordere fair
und bestelle billig.
Ich spreche von Zukunft,
doch mein Alltag erzählt
eine andere Geschichte.

Da frage ich mich:
Was ist Wohlstand?

Vielleicht
kein voller Schrank,
sondern eine offene Hand.
Kein leuchtendes Etikett,
sondern geteilter Atem.

Vielleicht ist Wohlstand
der Mut,
den Faden zurückzuverfolgen,
der mich mit den Menschen verbindet,
deren Leben in meinen Kleidern
weiteratmet.

Ich kann handeln.

Meine Lieblingsjeans
ist kein Wegwerfartikel,
sondern ein Kapitel.
Ich kann sie flicken,
damit Erinnerung hält —
sichtbare Knoten,
die verbinden.

Meine Strickjacke
ist ein gewebtes Gedicht
von Händen,
die den Winter kennen.

Mein Crop-Top
ein Versprechen:
tausend Stiche,
für meine Freiheit gesetzt.

Ich kann weitergeben,
was ich nicht mehr brauche —
wie einen Samen,
der neue Wurzeln sucht
in warmen Händen.

Ich kann laut sein,
politisch,
Brücken bauen
aus Worten, Forderungen, Taten.

Zusammen
können wir den Stoff
unserer Zukunft neu weben.

Wir können lernen,
unsere Hände
über Ozeane hinweg
miteinander zu verknoten,
zu halten, zu tragen.

Denn Reichtum
ist kein Gold,
das glänzt,
sondern ein Feuer,
das wärmt,
wenn viele darum sitzen.

Wir können Kreisläufe
nicht nur schließen,
sondern heilen.
Wir können Städte bauen,
in denen Stoffe
nicht verfallen,
sondern weiterleben;
in denen Arbeit
nicht erschöpft,
sondern nährt.

Wenn wir verstehen,
dass Stoffe Geschichten tragen
und jede Naht
einen Namen hat,
dass hinter jedem Kleidungsstück
ein Leben weiteratmet,

Dann dreht sich etwas —
nicht mehr im Kreis,
sondern nach vorn.

Denn wahrer Wohlstand
ist nicht, was wir besitzen,
sondern was wir teilen.

Und vielleicht
beginnt Veränderung
in den Händen,
die halten,
in den Fäden,
die wir neu knoten,
in dem Satz:
„Ich sehe dich.“

Autorin / Autor: Hannah K.